
Väter in der Literatur
Dr. Dominik Orth / Germanistik
Foto: Sebastian Jarych
Väter in der Literatur
Der Germanist Dominik Orth untersucht die Entwicklung der Vaterrolle von der Aufklärung bis in die Gegenwart
„In der Literaturgeschichte haben immer schon Kommunikationsprobleme die Rolle der Väter begleitet“, sagt Dr. Dominik Orth aus dem Fachgebiet Literatur- und Medienwissenschaft. Im letzten Semester bot er an der Bergischen Universität daher das Seminar ´Vaterfiguren – Väter in der Literatur von der Aufklärung bis zur Gegenwart` an.
Vor der Aufklärung stand der Vater für das System, das Gesetz, die Idee, die herrschenden Verhältnisse. Dem Vater gebührte die größere Rolle. „Ich glaube, die Vaterfiguren werden danach vielfältiger“, erklärt der Germanist, „es passiert etwas Neues in Dramen und Erzähltexten im Zuge der Aufklärung Mitte des 18. Jahrhunderts, etwa durch das Bürgerliche Trauerspiel. Insbesondere das Vater-Tochter-Verhältnis wird dann stärker thematisiert als das Vater-Sohn-Verhältnis.“ Es gehe um die Gefährdung der Familienehre, wenn die jungen Frauen sich mit irgendwelchen Männern einließen. „Wenn die Männer beispielsweise adelig sind und die Töchter aus bürgerlichen Verhältnissen stammen, dann wird es besonders schwierig, wie z. B. in ´Kabale und Liebe` von Schiller.“ Die Vätertypen veränderten sich, indem sie auf einmal positiv besetzt seien, und auch Schwächen zeigten, indem sie z. B. ihren Töchtern verziehen. Das zeige sich besonders in Lessings ´Miss Sara Sampson`, in dem der Vater sehr emotional gezeichnet sei und häufig sogar weine. „Die vermeintlich starken Väter gibt es natürlich auch noch, wie in ´Emilia Galotti`. Da ist der Vater bereit, seine Tochter auf ihren Wunsch hin zu töten, damit sie die Familienehre aufrechterhalten kann. Und das geht nur im Tod. Der Vater übt Gewalt über das Leben seiner Tochter aus.“ Diese Ambivalenz setze sich auch im Sturm und Drang (1745 – 1790) fort. In Schillers ´Die Räuber` erlebe man dann auch wieder einen sehr schwachen Vater, der kaum Kraft habe und von seinem Sohn sogar Gewalt erfahre. „Es tauchen neben den starken Vätern mehr und mehr auch schwächere und empfindsamere Väter auf.“

Vater-Sohn-Bild
Mary Cassatt, Porträt von Alexander J. Cassatt und seines Sohns Robert Kelso Cassatt, 1884, Öl/Lwd.
Foto: gemeinfrei
Wenn der Sohn aus der Rolle fällt
Konkurrenz spielt bei Vätern und Söhnen in der Literatur – wie auch im Leben – oft eine Rolle. Söhne haben oft andere Lebensvorstellungen. „Da gibt es ein schönes Beispiel aus dem Realismus (1848 – 1890) von Theodor Storm“, erzählt Orth. „Der Text heißt ´Hans und Heinz Kirch`, eine relativ kurze Novelle. Die bringt diese Konfliktsituation ganz gut auf den Punkt. Der Vater glaubt oder hofft, dass der Sohn in seine Fußstapfen tritt. Der Sohn hat aber anderes vor, und das führt dann zu einem lebenslangen Zerwürfnis. Sie entfremden sich. Der Sohn ist dann auch weg und am Ende, wenn es im Grunde zu spät ist, weil der Vater Versuche der Annäherung hat verstreichen lassen, stirbt er unversöhnt. Der Konflikt wird so ins Tragische zugespitzt, er bleibt unlösbar.“
Schicksalhafte väterliche Zuwendung
Starke Emotionen und innige Vatergefühle finden im 19. Jahrhundert Eingang in die Literatur. Es gibt einige Beispiele für verständnisvolle Väter, die ihren Kindern gegenüber zugewandt sind. „Es gibt einen Text von Arthur Schnitzler, ´Liebelei`, wo der Vater sehr modern seiner Tochter zugestehen möchte, dass sie ihre Erfahrungen machen soll, auch Liebschaften eingehen soll und nicht direkt den nächsten Mann heiraten muss“, erzählt Orth, „die Tochter ist aber noch so in den alten Denkmustern verhaftet, dass sie glaubt, sich das Leben nehmen zu müssen, weil der, den sie liebt – und für den das nur eine Liebelei ist – sie quasi nur benutzt hat und bei einem Duell ums Leben kommt. Das verkraftet sie nicht, weil sie immer noch so einem romantischen Liebeskonzept hinterher hängt. Der Vater ist dagegen schon sehr viel fortschrittlicher und zeigt Verständnis für seine Tochter.“ In einem anderen spannenden Text aus dieser Zeit verzichtet der Vater sogar auf eine neue Liebe zu Gunsten seiner Tochter.
Vater-Tochter-Bild
Carl Larsson, Brita und ich, 1895, Aquarell. Foto: gemeinfrei
„´Dämmerung` heißt dieses naturalistische Drama von Elsa Bernstein, wo der Vater sich in die Ärztin seiner Tochter verliebt. Die Tochter ist ein sehr charakterschwacher Mensch, könnte man sagen, sie nutzt ihren Vater aus und sie möchte, dass der Vater immer bei ihr bleibt. Sie hat ein Problem mit den Augen, erblindet im Verlauf des Dramas und lässt nicht zu, dass der Vater sich von ihr löst, um ein eigenes Leben zu führen. Der Vater opfert letztendlich seine Liebe, um für seine Tochter da zu sein. Er weiß, dass er unglücklich sein wird, aber er bleibt bei ihr. Von der starken Vaterfigur wird in der Literatur mit der Zeit mehr und mehr abgewichen.“
Literatur formuliert ein gesellschaftlich nicht auszusprechendes Problem
Auch in der Neuzeit sind Vaterfiguren große Hemmschwellen für die Entwicklung der Kinder. Von Franz Kafka ist der ´Brief an den Vater` erhalten, den er nie abgeschickt hat und der ein Zeugnis einer Hassliebe Anfang des 20. Jahrhunderts ist. Im Jahr 1926 erschien Thomas Manns Novelle ´Unordnung und frühes Leid`, in der er kaum verschlüsselt die eigenen Familienverhältnisse, seine Beziehung zu seinen sechs Kindern, vor allem die überaus problematische Beziehung zu seinem ältesten Sohn Klaus, darstellt. Literatur formuliert da ein Problem, dass man gesellschaftlich nicht aussprechen konnte. „Das stimmt“, sagt Orth spontan, „und das ist auch eine zentrale Funktion von Literatur. In der Literatur kann das gesagt werden, oder zur Sprache kommen, was man vielleicht so nicht ausdrücken kann. Das ist auch das Spannende an diesem Medium, dass es wie ein Archiv gesellschaftliche Probleme speichert und ablesbar macht.“ Dieses kulturelle Wissen aufzuzeigen, das sei eine der wichtigsten Aufgaben der Literaturwissenschaft. „Gerade bei Kafka – der wird ja oft auf diese Vater-Sohn-Problematik reduziert – gibt es auch literarisch einige Vaterfiguren, die im Gegensatz zu den Figuren bei Schnitzler und Bernstein sehr machtvoll auftreten, gleichzeitig aber auch immer Schwächen, auch körperliche Schwächen, zeigen. Die sind dann nicht mehr so fit, müssen gepflegt werden, oder der Sohn übernimmt die Aufgaben des Vaters.“ Trotzdem agierten sie stark und machtvoll, indem sie Macht über ihre Söhne ausübten. Orth nennt als Beispiel ´Das Urteil` von Kafka, wo der Vater den Sohn zum Tode verurteilt, weil es ihm nicht passt, wie der Sohn sein Leben führt, und der Sohn setzt das Urteil sogar um. Bei ´Die Verwandlung` dann, wo der Vater nicht mit der Verwandlung des Sohnes in einen Käfer klarkommt, verletzt er ihn mit einem Apfel schwer. „Diese Väter üben dann Gewalt gegenüber ihren Kindern aus, zeigen damit ihre Macht, sind aber eben nicht nur stark, sondern zeigen auch Schwächen.“

Vater und Kinder heute
Foto: Pixabay
Die anwesenden, abwesenden Väter
Nach dem Zweiten Weltkrieg schreiben Autoren wie Matthias Brandt in ´Blackbird`, Frank Witzel in ´Inniger Schiffbruch` oder Walter Kohl in ´Leben oder gelebt werden` über ihre Väter, mit denen sie in den 1960er und -70er Jahren aufwuchsen. Da erleben die Leser zwar keine Nazi-Väter mehr, aber Väter, die durch den Krieg Traumatisierungen erfahren haben. Die reden zu Hause nicht und werden als die anwesenden, abwesenden Väter beschrieben. Das ändere sich bis heute nicht, glaubt der Fachmann, denn man finde diese schweigenden, abwesenden Väter bis in die Gegenwartsliteratur. „Der Grund allerdings, warum die schweigen, der verändert sich. Da sind dann oftmals in Familienromanen irgendwelche Geheimnisse oder Versehrungen der Väter einfach nicht weitergegeben worden, und dadurch entstehen Konflikte in den Familien. Es gibt einen schönen Roman, der vor drei Jahren erschienen ist, ´Dschinns` von Fatma Aydemir, wo genau das thematisiert wird. Der Vater stirbt sehr früh, ist aber trotzdem im Roman präsent und es ist klar, dass es da ein Familiengeheimnis gibt, das der Vater lange versucht hat zu verheimlichen.“ Gleichzeitig gebe es aus den 80er Jahren natürlich auch Literatur, wo sich explizit mit der Tätergeneration der NS-Zeit auseinandergesetzt werde, wo das schwierige Verhältnis von den Kindern zu ihren Vätern, die in der NS-Zeit aktiv oder Mitläufer waren, thematisiert werde. „Dazu gibt es auch den Begriff der ´Väterliteratur`“, sagt Orth, „das sind oft autobiografische Texte.“
Veränderte Väterrollen und die Beschäftigung der Kinder mit ihnen
Die Vaterrolle verändert sich im Zuge der Emanzipation auch in der Literatur. „Da gibt es Beispiele, vor allem in der Kinder- und Jugendliteratur kann man das sehr gut sehen“, erklärt Orth. Das sehr traditionelle Rollenbild, nach dem sich Mütter kümmern und Väter nicht da seien, ändere sich stetig, je näher man zur Gegenwart komme. „Väter übernehmen dann mehr Aufgaben und sind präsenter in Bilderbüchern.“
Aber auch die Probleme erwachsener ´Kinder` mit ihren nun alt werdenden Vätern werden in der Literatur behandelt. Dazu Orth: „Es gibt eine schöne Geschichte von Judith Hermann, ´Acqua alta`, da reist die schon erwachsene Protagonistin nach Venedig und trifft da ihre Eltern. Sie hat Schwierigkeiten, damit klar zu kommen, dass sie sie immer noch als Kind behandeln und dass die Eltern schwächer werden und nicht mehr so gut auf sich aufpassen können.“ Ein weiterer aktueller Text heißt ´Dad` von Nora Gantenbrink. In dem Roman gehe es um das Verhältnis der Tochter zu ihrem abwesenden Vater. „Der war so ein Hippievater, der sich mehr um sich selbst und seine Drogen gekümmert hat, als um sein Kind, und der Roman beschreibt, wie sie damit umgeht. Es ist eine Geschichte um ein Kind, dass mit dieser Vaterfigur versucht umzugehen, was mich sehr beeindruckt hat. Sie versucht, nach dessen Tod, zu ergründen, was er für ein Mensch war.“
Väter in der Literatur waren zu allen Zeiten widersprüchlich und behandeln doch stets das Gleiche: die Auseinandersetzung mit Ansichten eines Vertreters der älteren Generation mit der Auffassung des Vertreters der jüngeren Generation.
Uwe Blass
Dominik Orth absolvierte ein Magister-Studium mit den Fächern Kulturwissenschaft, Germanistik und Geschichte an den Universitäten Bonn und Bremen. Er promovierte 2012 an der Universität Bremen. Seit 2017 arbeitet er als Lehrkraft für besondere Aufgaben im Bereich Neuere deutsche Literatur in der Fachgruppe Germanistik an der Bergischen Universität.