„Meine Entscheidung nie bereut“ – langjähriger Prorektor in den Ruhestand verabschiedet

02.02.2024|09:30 Uhr

2002 kam der Literaturwissenschaftler Michael Scheffel als Professor an die Bergische Universität Wuppertal; 14 Jahre lang – von 2008 bis 2022 – war er im damaligen Rektorat unter Prof. Dr. Lambert T. Koch als Prorektor zuständig für das Ressort Forschung, Drittmittel und Graduiertenförderung. Im Interview anlässlich seines Eintritts in den Ruhestand spricht Michael Scheffel über den Reiz unterschiedlicher Denkweisen sowie des persönlichen Kontakts und den Wert von überschaubaren Strukturen.

Prof. Dr. Michael Scheffel verabschiedet sich in den Ruhestand, bleibt mit der Uni aber auch weiterhin verbunden. // Foto Friederike von Heyden

Schön, dass Sie sich die Zeit nehmen, einige Gedanken mit uns zu teilen. Sie sind Germanist mit dem Schwerpunkt Allgemeine Literaturwissenschaft und Neuere Deutsche Literaturgeschichte – ganz breit gefragt: Was fasziniert Sie an Literatur?

Literatur öffnet uns ein Tor zu anderen Kulturen und Welten, seien es solche, die längst vergangen und verloren sind, seien es solche, die es nie gegeben hat oder geben wird. Literatur entführt uns aus einem oft banalen Alltag, sie vermag uns mit der Schönheit einer ästhetischen Form zu trösten und sie ermöglicht, was im wirklichen Leben unmöglich ist: Scheinbar unmittelbar Zutritt zum Bewusstsein anderer und zum Denken, Träumen und Fühlen Dritter zu erhalten. Mich interessieren aber nicht zuletzt auch immer wieder die vielen Geschichten, die erzählt werden und der Reichtum an Formen, in denen verschiedene Epochen und Kulturen alte Geschichten aufgreifen und neu gestalten. Mit Literatur verbinde ich letzten Endes sowohl die Geschichten von Abenteuern als auch die Abenteuer von Geschichten.  

Wie hat sich Ihr Forschungsinteresse im Laufe Ihrer akademischen Laufbahn entwickelt?

Mein Vater, selbst langjähriger Redakteur der FAZ, zitierte gern den alten Spruch „Der Journalist weiß am Ende nichts über alles, der Wissenschaftler alles über nichts“. Ich selbst habe einen Mittelweg probiert. In diesem Sinne habe ich meine Interessen einerseits möglichst breit gehalten und auch für ein größeres Lese-Publikum zu arbeiten und schreiben versucht – etwa indem ich neben früheren literaturkritischen Arbeiten für Rundfunk und Presse und meiner nun fast dreißig Jahre währenden Tätigkeit als Redakteur der Zeitschrift Text + Kritik zahlreiche Reclam-Ausgaben kanonischer literarischer Texte herausgegeben, das heißt mit Nachworten und Kommentaren versehen habe. Andererseits habe ich spezielle, schon früh bestehende Forschungsinteressen über die Jahre hinweg konsequent weiterverfolgt und vertieft.

Das ist einerseits das Interesse für die Formen des Erzählens und in diesem Rahmen zum Teil sehr avancierte theoretische, aber auch historische Fragen und andererseits das Interesse für einzelne Autor*innen und auch die Art und Weise der Entstehung ihrer Werke. Im Rahmen unserer 2012 begonnenen Edition von Werken Arthur Schnitzlers kamen dann für mich neue editionsphilologische und technologische Themen im Blick auf die besonderen Möglichkeiten der Präsentation von Texten und ihrer Genese in einer innovativen, von Anfang an für das digitale Medium konzipierten Ausgabe hinzu. Mit dem Entwurf des Konzepts einer, wie ich es nenne, ‚genetischen Narratologie‘ habe ich zuletzt meine Interessen für das Erzählen und die verzweigten Wege der schöpferischen Einbildungskraft von herausragend kreativen Menschen zu verbinden versucht. Besonders dieses Forschungsfeld wird mich auch künftig beschäftigen.

Als Vorstandmitglied sind Sie auch in das Wuppertaler Zentrum für Erzählforschung, kurz ZEF, involviert, das Themen wie Sprache, Erzählen und Edition aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Nicht für jede*n ist gleich greifbar, was an solch einem Zentrum passiert – warum ist die Arbeit des ZEF – früher wie heute – so bedeutsam?

Neben vielen anderen Effekten ist dieses 2007 gegründete Zentrum ein Treffpunkt für Vertreter*innen verschiedener Fachdisziplinen und eine Art Katalysator für Forschung und Lehre zu allen Aspekten des Erzählens aus unterschiedlichen methodologischen Perspektiven. Konkret äußert sich das in  einer Vielfalt von Aktivitäten. Dazu zählen etwa wissenschaftliche Vortragsreihen, Diskussionsforen, gemeinsame Publikationen und Forschungsprojekte, aber auch zum Beispiel eine speziell den wissenschaftlichen Nachwuchs adressierende ‚AG Erzählforschung‘. Auch das 2012 von uns gegründete und unterdessen international beachtete interdisziplinäre E-Journal Diegesis wird im Rahmen einer kollegialen Zusammenarbeit über die Fachgrenzen hinweg von Mitgliedern des ZEF redaktionell betreut. In einer Zeit, in der ‚Sichtbarkeit‘ und ‚Resonanz‘ auch in der Wissenschaft eine immer größere Bedeutung zukommt, ist das ZEF gewissermaßen zum Leuchtturm im weiten Feld der internationalen Narrativforschung geworden. Das wiederum führt dazu, dass wir, bislang jedenfalls, immer wieder auch Promovierende sowie Wissenschaftler*innen gewinnen konnten, die sich andernfalls wohl nicht für den Standort Wuppertal entschieden hätten. 

2002 sind Sie an die Bergische Uni gekommen, von 2008 bis 2022 waren Sie Prorektor für das damalige Ressort Forschung, Drittmittel und Graduiertenförderung, eine lange Zeit. Was hat Sie an der Übernahme des Amtes gereizt?

Vor dem Beginn meines eigentlichen Fachstudiums habe ich ein einjähriges studium generale am Leibniz Kolleg in Tübingen absolviert. Dort habe ich Freundschaften zu Studierenden ganz unterschiedlicher Fächer geschlossen und deren unterschiedliche Denkweisen und Methoden kennen und schätzen gelernt. Mit anderen Worten: Ein großer Reiz war für mich die Perspektive des persönlichen Kontakts zu vielen Forschenden verschiedener Fachdisziplinen und des Austauschs, wobei die Bergische Universität ja ein ungewöhnlich breites Spektrum von Fächern beherbergt, also auch Fächer, die man sonst nur an einer Technischen Hochschule oder etwa einer Kunsthochschule findet. Diese Vielfalt mitsamt ihren jeweiligen disziplinären Voraussetzungen genauer kennen zu lernen und die Forschung der Kolleg*innen in all diesen Fächern so weit als möglich zu unterstützen und auch nach außen hin sichtbar zu machen, das hatte einen großen Reiz für mich. Und Spitzenforschung und die Erkundung von ‚Neuem‘, sich möglichst unvoreingenommen auf die Suche nach dem zu begeben, was der Fall ist oder auch sein könnte, das hat mich immer schon fasziniert.

Ein weiterer Anreiz war, dass mir das Ansehen und das Bewusstsein für den Wert und die Bedeutung von Forschung an dieser noch jungen Universität seinerzeit, in der Breite jedenfalls, noch ausbaufähig schien. Das Angebot von Lambert Koch, als für Forschung zuständiger Prorektor im Rektorat mitzuwirken, habe ich damals als Geschenk empfunden und ich habe meine Entscheidung nie bereut, auch wenn die Arbeitsbelastung insgesamt manchmal an meine persönlichen Leistungsgrenzen ging.

Nehmen Sie uns auszugsweise etwas mit: Was waren Ihre Aufgaben, welche Herausforderungen haben Sie auch persönlich geprägt? Auf welche Meilensteine für die Bergische Uni sind Sie gegebenenfalls besonders stolz?

Prägend für mich waren viele Dinge. Neben der reichhaltigen Gremien- und Planungsarbeit hervorzuheben sind hier sicher die mehr als zweihundert Berufungsverhandlungen, die ich zusammen mit unserem Kanzler geführt habe. Da lernt man die künftigen Kolleg*innen, ihre Person, ihre akademische Herkunft, ihre jeweiligen Vorstellungen von Wissenschaft und all ihre Projekte in einer besonders intensiven Situation sehr gut kennen. Wir haben uns für diese Verhandlungen immer vergleichsweise viel Zeit genommen und ich glaube, wir haben mit der ernsthaften Form unseres Austauschs in manchen Fällen vor allem junge und vielversprechende Personen für unsere Universität gewinnen können, die sich auch für andere, im Einzelfall vielleicht besser ausgestattete Standorte hätten entscheiden können.

Meines Erachtens haben wir aber auch dazu beitragen können, das Selbstbewusstsein der Mitglieder unserer Universität als Forschende und den Stellenwert von Forschung in dieser Zeit erheblich zu steigern. Und auch wenn das allein gewiss nicht ausschlaggebend ist: Einen Fortschritt in dieser Richtung belegt die – im Vergleich zu anderen Universitäten – weit überdurchschnittliche Dynamik in der Entwicklung der Drittmittelzahlen in dem von uns zu verantwortenden Zeitraum. Einen gewissen Stolz empfinde ich im Blick auf die vielen Strukturen, die wir in dieser Zeit geschaffen haben, das heißt weniger die konkreten Strukturen wie zum Beispiel eine so und so aufgebaute Forschungsförderung, eine Forschungsdatenbank, ein Forschungsmagazin, die Interdiszplinären Zentren oder die verschiedenen Forschungsprofillinien als die Tatsache, dass überhaupt überschaubare Strukturen und Profile entwickelt wurden, die dann mit der Zeit natürlich auch immer wieder neu angepasst werden können und müssen.

Und auch auf die Art und Weise wie wir Veränderungen und eine gewisse Profilbildung und Sichtbarkeit nach Außen erreicht haben, bin ich, wenn man das überhaupt so sagen kann, in einem gewissen Maße stolz. Im Ergebnis, so glaube ich, haben wir einerseits schon gewisse Richtungen und Ziele vorgegeben, den einzelnen Forschenden andererseits aber immer auch alle Freiheiten gelassen. Diese Mischung von klaren Leitlinien, Anreizen und Möglichkeiten der freien Entfaltung war meiner Meinung nach ein wichtiger Nährboden für viele positive Entwicklungen an unserer Universität, die sich, das darf man nicht vergessen, in der Zeit um die Jahrtausendwende in einer existenzgefährdenden Krise und einem Mediationsprozess mit ungewissem Ausgang befand.   

Wie würden Sie selbst Ihre Zeit an der Uni Wuppertal betiteln, wenn sie als Geschichte in einem Buch erscheinen würde?

Die Zeit an der Bergischen Universität ist für mich eine wichtige und prägende Zeit, aber sie ist doch auch nur ein Kapitel in meiner persönlichen Geschichte. Ich habe ja an verschiedenen Universitäten im In- und Ausland studiert und immerhin rund zwanzig Jahre meiner akademischen Sozialisation an der Universität Göttingen verbracht. Nach einem Kapitel „Lehrjahre an der Georgia Augusta“ würde im Buch meines Lebens in diesem Sinne also folgen: „Meisterjahre mit offenem Horizont an der jungen Bergischen Universität.“

Würden Sie ein solches Buch gerne schreiben, oder welche Projekte stehen demnächst an?

Im Rahmen einer Kurzzeitdozentur war ich für einige Monate mal in Birmingham, das in verwandelter Form als ‚Rummidge‘ in David Lodges berühmtem Roman Changing Places auftaucht, und ich war in unterschiedlichen Eigenschaften auch mit der Universität Hamburg verbunden, die mitsamt ihrem Personal der 1990er Jahre in nur unwesentlich verwandelter Form im Blickpunkt des Bestsellers Der Campus von Dietrich Schwanitz steht. Bei aller Freude am Erzählen und seinen verschiedenen Formen kann ich mir für mich selber aber nicht vorstellen, die Realität und das Leben an einer Universität so zu pointieren, dass daraus ein wirklich lesenswerter und möglicherweise auch erfolgreicher Campus- oder Universitätsroman entstünde. Teils würde mir die Fantasie dafür fehlen, teils wohl auch die notwendige Freude am Sarkasmus.

Wenn ich etwas Persönliches schreiben würde, dann wohl eher eine Art intellektuelle Autobiografie, die auch die Geschichte meiner Familie und die geistigen Entwicklungen umfasste, die von einer scheinbar hochkultivierten und internationalen ‚guten Gesellschaft‘ im Europa der Jahrhundertwende um 1900 zu den Katastrophen zweier Weltkriege und dem Holocaust führen und die nach den Jahren des Eisernen Vorhangs und der Wiedervereinigung Deutschlands nun offenbar das Aufkommen eines neuen Nationalismus in Europa zur Folge haben. Von einer solchen vagen Idee mal abgesehen, habe ich viele konkrete Publikationsprojekte, die vor allem in weiteren literaturwissenschaftlichen Arbeiten bestehen. Von den Werken meiner Lieblingsautoren Theodor Fontane und vor allem Arthur Schnitzler abgesehen gibt es ja noch viel zu entdecken – und jede Studie zu einem literarischen Text ist für mich eine neue Art von intellektueller Herausforderung und am Ende persönlicher Bereicherung.

Bleiben Sie der Uni auf bestimmte Weise verbunden?

Konkret gibt es noch das von der Union der Akademien geförderte und von der Cambridge University Library (CUL) gehostete Langzeitprojekt einer digitalen historisch-kritischen Edition der Werke Arthur Schnitzlers, das an der Bergischen Universität angesiedelt ist und das ich zusammen mit meinem Kollegen Wolfgang Lukas bis 2028 leiten werde; das heißt auch die bei uns angesiedelte Forschungsstelle mit ihren Mitarbeiterinnen. Außerdem werde ich wohl Mitglied in einigen Herausgeber*innengremien und auch zum Beispiel dem ‚Zentrum für Erzählforschung‘ bleiben. Und zusammen mit meinem Kollegen Matías Martínez werde ich im Herbst 2025 eine große internationale Tagung von Narratolog*innen in Wuppertal organisieren. Es gibt also noch einige Projekte und Kooperationen mit Kolleg*innen, mit denen ich längst auch befreundet bin und mit denen ich immer gern zusammengearbeitet habe und in etlichen Fällen auch noch zusammenarbeiten werde. 

Alles Gute für all das, was nun für Sie folgt.

Zur Person

Michael Scheffel, geboren 1958 in Frankfurt, studierte Germanistik, Romanistik und Kunstgeschichte an den Universitäten Tübingen, Tours (Frankreich) und Göttingen. 1995 habilitierte er sich dort zum Thema „Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen“. Er blieb zunächst in verschiedenen Funktionen an der Uni Göttingen, übernahm international mehrere Lehrtätigkeiten und kam 2002 schließlich als Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft an die Bergische Universität Wuppertal. Von 2008 bis 2022 war er hier Prorektor für Forschung, Drittmittel und Graduiertenförderung.

Er ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Reihe „Narratologia“; Mitherausgeber der Reihe „Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Schriften“, der „Schriftenreihe Literaturwissenschaft“ und von „Diegesis. Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung/Inderdisciplinary E-Journal for Narrative Research“.

Seit 2012 leitet er zusammen mit Wolfgang Lukas die Wuppertaler Arbeitsstelle des in Kooperation mit der Universität Cambridge (UK), der Cambridge University Library und dem Deutschen Literaturarchiv Marbach sowie mit dem Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften der Universität Trier durchgeführten und im Akademienprogramm geförderten Forschungsprojekts „Arthur Schnitzler: Digitale historisch-kritische Edition (Werke 1905 bis 1931)“ (www.arthur-schnitzler.de).

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