Wunder
Prof. Dr. Kurt Erlemann / Evangelische Theologie
Foto: Sebastian Jarych

Wunder sind faszinierende Storys von der Hoffnung gegen die Hoffnungslosigkeit

Der Theologe Kurt Erlemann über die Funktion von Glaubenszeugnissen

´Wunder gibt es immer wieder…`, sang Katja Ebstein in den 70er Jahren. Filme wie ´The Green Mile` oder ´Lorenzos Öl`, Dokumentationen und die Literatur befassen sich immer wieder mit Wundern. Die Bibel ist voll von diesen Geschichten, so dass man sie unkritisch auch als Science-Fiction-Roman lesen könnte. Wunder haben aber schon seit jeher eine Funktion in unserem Leben, weiß Prof. Dr. Kurt Erlemann, der an der Bergischen Universität Evangelische Theologie lehrt.

Wunder sind Glaubenszeugnisse

„Die Texte der Bibel sind in allererster Linie Glaubenszeugnisse und die meisten haben, das ist wichtig, faktualen Charakter. Sie sagen, da ist etwas passiert und es werden auch Augenzeugen benannt. Auf diese Augenzeugen kann man sich berufen, diese Leute haben etwas im Glauben erlebt und erzählen es dann der Nachwelt weiter.“ Diese Wunder, erklärt er, erinnern in allen möglichen Zusammenhängen immer wieder an die Schöpferkraft Gottes und wollen Hoffnung und Glauben wecken.

Der Begriff Wunder umfasst all diejenigen Ereignisse, die dem Eingreifen einer Gottheit oder metaphysischen Kraft zugeschrieben werden. „Es ist ein positiv geprägter Begriff“, sagt Erlemann, „es geht um eine positive Wendung des Schicksals, ausgelöst durch eine Gottheit.“ Und dieses Ereignis in Raum und Zeit widerspreche zwar scheinbar den Grundsätzen menschlicher Vernunft und Erfahrung sowie den Gesetzmäßigkeiten von Natur und Geschichte, stärke aber jede Form der Hoffnung. „Gegen alle Wahrscheinlichkeit und Erfahrung kann der Wunderglaube trotzdem Dinge zum Guten wenden, der Tod hat nicht das letzte Wort.“

Bei rationalem Zugriff geht das Wunderbare verloren

Die heutige Vorstellung von Wunder ist eine andere als die früherer Zeiten, denn sie setzt ein Wissen um Naturgesetze voraus, wobei es schon in der Antike Wunderkritik gegeben habe, konstatiert der Theologe. „Wenn es hieß, dass irgendjemand einen Toten erweckt hätte, war da immer gleich die Scheintodhypothese im Raum.“ Heute sei hingegen der rationale Zugriff auf die Wirklichkeit ganz zentral, habe schon fast normativen Monopolcharakter. Die Kirche habe nach dem Aufkommen der Aufklärung lange Zeit versucht, Wunder rational zu erklären. Auch ein Buch der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts mit dem Titel ´Und die Bibel hat doch Recht` versucht noch die Wundergeschichten zu erklären. „Der Preis für diese rationalen Erklärungen, die sich manchmal ziemlich skurril lesen, ist, dass das Wunderbare dadurch verloren geht. Wenn ich erklären kann, dass Jesus über das Wasser gelaufen ist, weil er die Steine kannte, die da in dem See Genezareth lagen, dann ist das zwar erklärt, aber das Wunderbare ist weg.“ Heute versuche man eher Wunder zu ´entschärfen`, erklärt Erlemann, indem man sie auf eine spirituelle oder psychische Ebene verlagere. So habe Jesus beispielsweise Blinde nicht wirklich geheilt, sondern ihnen zu einer neuen Erkenntnis verholfen. „Er hat die Gelähmten nicht wirklich physisch geheilt, sondern er hat sie –übertragen gesprochen- neu aufgerichtet, dass sie mit neuem Selbstbewusstsein durchs Leben gehen können.“

Das Wunder vom geteilten Meer

Ein bekanntes Beispiel ist das Wunder vom geteilten Meer. Unter Führung von Mose ist das Volk Israel aus der ägyptischen Unterdrückung geflohen und zieht über die Sinai-Halbinsel in Richtung gelobtes Land. Die Truppen des Pharaos jagen den Israeliten hinterher. In auswegloser Lage steht Gott ´seinem` Volk bei und teilt das Wasser des Schilfmeeres. Trockenen Fußes erreicht der Flüchtlingstreck das andere Ufer. Die Ägypter hingegen werden von den Wassermassen verschlungen. In der Bibel heißt es wörtlich: „Und die Israeliten gingen hinein mitten ins Meer auf dem Trockenen, und das Wasser war ihnen eine Mauer zur Rechten und zur Linken.“ (2. Mose 14)
Dazu Erlemann: „Die Exoduserzählung transportiert die Erinnerung daran, dass das unterdrückte Volk Israel, gegen alle Wahrscheinlichkeit, gegen alle Resignation, überraschend aus Ägypten freikam.  Und diese Erfahrung wird als Wunder gedeutet. Es wäre auch hier der falsche Weg, die historische Beweisbarkeit als Kriterium zu nehmen, ob das, was hier berichtet ist, in irgendeiner Form glaubwürdig oder wahr ist. Ein historischer Beweis wird nicht gefordert, aber die Hoffnung auf Gott wird provoziert, und darum geht es.“

Die Auferstehung Christi und Frauen am Grab von Fra Angelico (1440 – 1442)
Foto: gemeinfrei

Das größte Wunder: Die Auferstehung

Jesus werden im Neuen Testament ungefähr 27 Wunder zugeschrieben. Wir alle kennen die Umwandlung von Wasser zu Wein oder die Erweckung Lazarus´. Das größte Wunder jedoch ist seine Auferstehung. Hier endet für den menschlichen Verstand jedwede Möglichkeit des Beweises. „Ja, kurz und knapp, das ist so“, sagt Erlemann prompt. „Wundergeschichten provozieren geradezu die Vernunft und bringen die Gegenratio Gottes ins Spiel. Gleichnisse machen Mut, sie fordern auf, das Unmögliche für möglich zu halten. Da kommen wir auch nicht raus. Entweder glaubt man, dass hier ein Wunder passiert ist, oder nicht.“

Wo begegnen uns Wunder?

Wunder seien immer eine Frage der persönlichen Bewertung. „Man kann historische Ereignisse, die geschehen, immer auch als Zufall interpretieren, man kann aber auch persönlich sagen: Für mich ist das mehr! Für mich hat das einen tieferen Sinn, das ist eine Fügung oder eben ein Wunder.“ Für sich persönlich sieht der Theologe u.a. den Mauerfall als Wunder an, denn dieser sei ohne Blutvergießen abgelaufen und widerspreche eigentlich jeder Wahrscheinlichkeit. Auch das Wunder von Lengede, ein Grubenunglück von 1963, das 100 Bergleute überlebten, oder die vielen kleinen Wunder, die nach Naturkatastrophen geschehen, wenn man noch Tage später lebende Menschen oder Tiere bergen kann, erklärt er, „sind für mich auch wunderbare Fügungen.“

Wunder in der Lehre

Kurt Erlemann hat ein Buch mit dem Titel ´ Wunder: Theorie – Auslegung – Didaktik` zum wissenschaftlichen Umgang mit biblischen Wundererzählungen geschrieben.  Darin vermittelt er die Wundertexte als Hoffnungs-, Glaubens- oder Protestgeschichten gegen die scheinbare Unveränderlichkeit der Welt und sagt: „Mehrere Sinnebenen erschließen den Reichtum der Texte. Die erste Sinnebene ist die wörtliche, die physische. Da ist tatsächlich jemand gesund geworden, von den Toten auferstanden. Die ist am schwierigsten zu vermitteln. Für mich ist sie aber die Spitze des Gottesglaubens. Die Frage lautet also: Glaube ich an Gott, den Schöpfer, der selbst aus dem Tod heraus neues Leben schaffen kann?“ Weitere Sinnebenen seien aber genau so wichtig, denn jede Wundergeschichte habe mehrere Ebenen und die könnten immer auch spirituell, mythisch, kosmologisch oder ekklesiologisch sein und so dieses ganzheitliche Zusammenspiel verdeutlichen.

Wunder lassen sich historisch, experimentell und naturwissenschaftlich nicht beweisen. Dennoch erklärt Erlemann: „Sie sind für mich eine theologische Notwendigkeit, weil, das hängt mit dem Gottesglauben zusammen, ohne den Wunderglauben glaubt man letztlich nicht voll an die Schöpferkraft Gottes. Man bringt sich letztlich um die Hoffnung auf physische Erlösung, wie sie in der Bibel auch grundgelegt ist. Wenn ich aber nicht glauben kann, dass Jesus wirklich leibhaftig auferstanden ist, dann spreche ich Gott letztlich die Fähigkeit ab, dass er das kann. Und damit bringe ich mich selber um die Hoffnung, dass uns das auch irgendwann zuteilwird. Wundertexte sind faszinierende Storys von der Hoffnung gegen die Hoffnungslosigkeit.“

Wunder geschehen

Jeder Mensch hat sicher schon einmal eine Situation erlebt, die man auch als Wunder definieren kann. Das müssen nicht immer große Ereignisse sein, ein Wunder kann sich auch im Kleinen finden. „Viel bedeutender ist für mich“ sagt Erlemann, und das komme einem Wunder gleich, „dass ich in meinem Alter immer noch gesund und tatkräftig arbeiten kann. Ich erlebe rechts und links von mir ganz andere Biografien. Ich kann auch immer noch Pläne schmieden.“

Und dann erzählt er noch eine sehr persönliche Geschichte aus seiner Familie: „Meine Mutter war 1944 neun Jahre alt und wurde von ihrer Mutter in den Hort geschickt, wo sie jeden Tag mit Freude hingegangen ist. Aber an dem Tag wollte sie nicht gehen. Die Oma hat aber betont, dass es an diesem Tag besonders wichtig sei, in die Betreuung zu gehen, und dann hat sie sich überreden lassen. An diesem Tag gab es in der Gegend einen einzelnen Bombenabwurf über der Stadt und die Familie mit fünf Geschwistern, der Oma und noch einer Cousine, waren alle tot. Meine Mutter hat als eine von ganz wenigen Geschwistern überlebt. Damit ist sie ihr Leben lang nicht richtig fertig geworden. Ich habe mich mit ihr oft unterhalten und immer gesagt: ´Das ist ein Wunder! Es sollte so sein. Du wolltest nicht, hast dich aber überzeugen lassen, bist gegangen und hast überlebt`. Und du hast einen Mann glücklich gemacht und zwei wunderbare Kinder in die Welt gesetzt.“

Uwe Blass

Kurt Erlemann studierte Evangelische Theologie in München, Zürich und Heidelberg. Er promovierte 1986 und arbeitete anschließend als Vikar der Badischen Landeskirche sowie als Schulpfarrer. Nach seiner Habilitation übernahm er Lehrstuhlvertretungen in Hamburg und Koblenz. Seit 1996 leitet er den Lehrstuhl für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche an der Bergischen Universität.

 

 

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