Brutalismusgebäude in Wuppertal
Prof. Dr.-Ing. Christoph Grafe / Architekturgeschichte und -theorie
Foto: UniService Transfer

„Brutalismusgebäude muss man ´schön finden` lernen“

Prof. Dr.-Ing. Christoph Grafe, Architekt an der Bergischen Universität, über Sichtbetonbauten der 60er und 70er Jahre

In den 60er und 70er Jahren prägte eine besondere Architektur vielerorts das Stadtbild. Fachkreise sprechen von Brutalismus, einer Architektur, die dem französischen Begriff ´béton brut` nach Le Corbusier entlehnt ist, also nichts mit Brutalität zu tun hat, sondern einfach roher Beton oder Sichtbeton bedeutet. Auch in Wuppertal gibt es dazu viele Beispiele, weiß der Architekt, Prof. Dr. Christoph Grafe, der sich an der Bergischen Universität – auch ein Brutalismusbau – mit der Geschichte der Architektur beschäftigt. „Ursprüngliche Brutalismusgebäude sind zu 100 Prozent total ehrlich“, sagt er, wobei die ersten Erwähnungen zu dieser Baukunst aus England kamen.

´The new brutalism`

Brutalismus, könne man sagen, sei eine englische Erfindung, erklärt Grafe und fährt fort: „Der Begriff im Allgemeinen ist zum ersten Mal in einem Artikel des englischen Architekturkritikers Reyner Banham unter dem Titel „the new brutalism“ genannt worden.“ Im Untertitel dieser Geschichte gehe es dabei dann nicht um einen neuen Stil, sondern Banham fragt nach der Haltung dieser Baukunst gegenüber und kommt zu dem Schluss, dass es eine ethische Haltung sei. „Und die besagt, kurz zusammengefasst, auch wenn sich die Moderne darum bemüht hat, zu zeigen, wie Gebäude konstruiert sind, hat sie sie eigentlich immer noch verhüllt“, sagt Grafe. Interessant dabei sei, führt er aus, dass Banham zahllose Beispiele anführe, darunter jedoch keinen Betonbau nenne. „Es sind Gebäude, deren Konstruktion ganz klar sichtbar ist. Man versucht gar nicht erst, etwas schöner zu machen. Das ist der Kern.“

Bergische Universität:
Ein Brutalismusbau aus den 70er Jahren: Die Bergische Universität
Foto: Sebastian Jarych

Gestalteter Beton

„Selbstverständlich wird dieser Begriff in der Folge mit Architekturen verbunden, die unbehandelten, sichtbaren Beton verwandt haben.“ In der hauptsächlichen Verarbeitung dieses Sichtbetons wirken die Gebäude zwar oft schroff und wuchtig, zeichnen sich aber durch klare Linien und einfache geometrische Formen aus. Oft sei der verwandte Beton direkt vor Ort gegossen worden, daher spreche man auch vom Ortbeton. „In diesem sichtbaren Beton kann man dann sehr häufig die Verschalung sehen und die Holzmaserung noch genau erkennen.“ Mit diesem klassischen Motiv, welches die Herstellung des Betons genau erkennen ließe, seien dann viele Gebäude der 60er und 70er Jahre unter dem Begriff Brutalismus zusammengefasst worden. Eine Vielfalt von Formen konnte dadurch hergestellt werden und verbreitete sich in ganz Europa. Das führte aber auch dazu, dass sich viele Gebäude durch ihre Formen stilistisch schlecht einordnen lassen. „Es gibt Kirchen, die aussehen wie Silos, wie Industriehalter oder Berge. Ich denke da an den Dom in Neviges, den viele Menschen sicher dem Brutalismus zuordnen würden“, erklärt Grafe.

Katholische Kirche St. Joseph in Ronsdorf
Einweihung 1969
Foto: UniService Transfer

Brutalismusbauten in Wuppertal

Brutalismusgebäude haben eine enorme Präsenz in den Städten. In Wuppertal gibt es u.a. die Katholische Kirche St. Joseph in Ronsdorf, oder St. Paul in Langerfeld, das Terrassenhaus an der Nützenberger Straße, das alte Postgebäude am Kleeblatt, das Stadtsparkassenhochhaus in Elberfeld und natürlich die Bergische Universität am Grifflenberg. „Man nutzte diese Architektursprache gerne, denn die Bedingungen für die Produktion von Bauten hatten sich verändert“, erklärt Grafe, „Arbeitskosten wurden höher, Materialkosten sanken. Die Industrialisierung, gerade in der Bauindustrie, war fortgeschrittener. Klassische, handwerkliche Motive werden in den 60er Jahren weniger und das industrielle Bauen mit seiner eigenen Logik wird wichtiger.“ Woran aber macht man nun brutalistische Architektur fest? „Ich denke da an die Bergische Universität“, sagt der Architekt sofort. „Die Balkonbalustraden oder Balkonbänder, kann man sicher als modernistisches Motiv sehen.“ Auch spiele der Bauplatz immer eine Rolle. „Bei der Bergischen Universität und auch dem Terrassenhaus wird das zusammen schon als geologische Gegebenheit wahrgenommen. Es ist fast schon so, als ob aus dem Felsen am Grifflenberg, aus dem Gestein, ein künstlicher Felsen erwachsen ist, oder gar eine Burg. Da ist die Materialität des Betons von außerordentlicher Wichtigkeit, weil die die Verbindung zum Boden herstellt und dem, was dann darauf gebaut ist. Das ganze Gebäude ist Teil dieser Terrassenlandschaft.“

Renaissance durch Nachhaltigkeit?

Bis vor kurzem wurde dieser Baustil sehr negativ beurteilt, viele Gebäude standen und stehen vor dem Abriss. Jetzt erlebt er aber wieder eine Renaissance. Das Projekt #SOSBrutalism ist ein Indiz dafür. „In bestimmten architekturaffinen Kreisen gibt es schon lange eine gewisse Nostalgie für diese Architektur“, berichtet Grafe, „nicht umsonst stehen viele Gebäude schon unter Denkmalschutz.“ Da heute ein Abriss keine erste Option mehr sei, müsse man über Umnutzung nachdenken. Da stelle sich dann die Frage, was mit den Gebäuden gemacht werden solle. „Wie können wir sie anpassen, damit sie auch nutzbar bleiben? Und wie erhalten wir andererseits die ästhetischen Qualitäten dieser Architektur, damit sie weiter wahrgenommen werden, um sie auch schätzen zu können?“ Als Beispiel führt Grafe das ehemalige Bücherschiff in Elberfeld an, welches seit 2017 als sozio-kulturelles Zentrum ´Das Loch` bekannt ist. „Das Gebäude ist ganz interessant, abreißen wird man es nicht können und wenn man damit etwas in der Zukunft entwickeln will, dann muss man Ideen anstoßen.“

Alte Wuppertaler Post am Kleeblatt
Inbetriebnahme 1975
Foto: UniService Transfer

Instandsetzung ohne Maximalanforderung

Viele Sichtbetonbauten sind in die Jahre gekommen und bedürfen der Instandsetzung, die wiederum klamme Kassen der Städte und Kommunen heillos überfordern. „Wir sehen im Augenblick, dass an alle Gebäude Maximalanforderungen gestellt werden“ sagt Grafe, „sie müssen u.a. dem allerhöchsten Energiestandard entsprechen. Wenn man das will, muss man enorme Summen einsetzen und zum Teil auch Architektur zerstören“. Gerade die Architektur der Nachkriegszeit und der 60er und 70er Jahre komplett zu verhüllen und zu isolieren, bedeute, eine technisch unglaublich aufwändige und invasive Lösung umzusetzen, die zudem den Charakter der Bauten zerstöre. Alternativ könne man z. B. in Bezug auf Energiekosten auch einmal über eine thermische Regulierung nachdenken, indem man Wärmezonen in die Gebäude einbaue. „Man muss viel bescheidener auftreten.“

Problem: Baugesetzgebung

Unser Umgang mit altem Gebäudebestand muss sich also ändern. Umnutzungen scheinen schwierig, doch es gibt auch Lichtblicke. Das Hygieneinstitut in Berlin, der sogenannte Mäusebunker, scheint nach einer Petition gerettet und wird einer Umnutzungsmöglichkeit zugeführt. Das alte Postgebäude in Wuppertal hingegen steht schon seit Jahren leer. Die Clees-Gruppe hatte bereits Pläne für ein Fitnesscenter oder die Unterbringung von Flüchtlingen, aber auch Büros, Hotellerie oder Gastronomie wären denkbar. Doch viele Vorhaben dauern schlichtweg zu lange. Dazu Grafe: „Ein ganz wesentlicher Aspekt ist die Baugesetzgebung. Sie stellt bei jeder Veränderung maximale Forderungen. Wenn ich nur eine kleine Veränderung an einem Gebäude vornehmen will, dann muss ich bei der Umnutzung eines Hauses möglicherweise Stellplätze nachweisen, die ich entweder nicht haben will und auch nicht brauche. Wir haben Prozesse, die überhaupt keinen Spielraum erlauben. Die Genehmigungsverfahren bei den Baubehörden und auch die Haltung der Genehmigenden dort, die sich sklavisch an die gesetzgebenden Formulierungen halten, die oft nicht mehr zeitgemäß sind, erschweren die Arbeit massiv.“

 

 

Stadtsparkasse Wuppertal
Brutalistische Architektur am Islandufer
Foto: UniService Transfer

Aus Fehlern gelernt

Mittlerweile gibt es schon den Stil des ´New New Brutalism`. Ein schönes Beispiel dazu ist die 2008 fertiggestellte Universität Luigi Bocconi in Mailand. Zwar schätzt Grafe das italienische Beispiel, sagt aber bestimmt: „Wir brauchen keinen neuen Brutalismus. Ich denke, wir sollten uns überlegen, welche Entwurfssprache wir für die Gebäude entwickeln, die wir bereits haben.“ Im Zuge der Nachhaltigkeitsdebatte arbeite man heute auch mit anderen Konstruktionen und Materialien, dazu zähle natürlich auch Holz. „Und dann denken wir heute mehr an Gebäude, die man auch wieder komplett abbauen und woanders aufbauen kann. Die Brutsalismusbauten, die wir haben, müssen wir auch ´schön finden` lernen. Wir müssen sie schöner machen, so dass sie in Zukunft weiter funktionieren, weil sie zu unseren Städten gehören. Ich denke es ist gut, wenn man das, was man hat, auch wertschätzt.“

Uwe Blass

Prof. Dr.-Ing. Christoph Grafe leitet seit 2013 den Lehrstuhl für Architekturgeschichte und -theorie an der Bergischen Universität.

 

 

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