Kirche und Sex
Prof. Dr. Kurt Erlemann / Evangelische Theologie
Foto: Sebastian Jarych

Kirche und Sex: Beim ersten Mal geht für viele der Himmel auf

Prof. Dr. Kurt Erlemann über eine überkommene Sexualmoral der etablierten Kirchen

Um das Jahr 1700 begann die Entwicklung der Aufklärung und ermutigte die Menschen, durch rationales Denken, Autoritäten in Frage zu stellen und alle den Fortschritt behindernden Strukturen, einschließlich der kirchlichen Lehre zu Sex und Ehe, zu überwinden. In den folgenden Jahrhunderten veränderte die sexuelle Revolution die westliche Welt. Kirche und Gesellschaft entfernten sich in Fragen zu Sex und Gender immer weiter voneinander.
Der evangelische Theologe Prof. Dr. Kurt Erlemann spricht über Traditionen, Fehleinschätzungen und eine Sexualmoral, die es noch einmal zu überprüfen gilt.

Körper- und Lustfeindlichkeit bestimmten über Jahrhunderte hinweg bis in die heutige Zeit hinein das Verhältnis der etablierten Kirchen zur Sexualität. Der Wuppertaler Theologe Prof. Dr. Kurt Erlemann sieht mehrere Hintergründe, die dafür verantwortlich sind: „Den einen Hintergrund sehe ich in der griechischen Philosophie, so weit hergeholt das auch zu sein scheint, denn in der griechischen Philosophie, vor allem im Platonismus, wurde zwischen Geist und Materie unterschieden, zwischen Seele und Körper. Und der Körper, die Materie, kam dabei ziemlich schlecht weg.“ Jegliche Körperlichkeit wurde als schlecht angesehen. Nur der Geist und die Seele galten als höherwertig. Das habe sich dann mit Augustin (römischer Bischof und Kirchenlehrer im 4./5. Jahrhundert), der auf dieser Grundlage dann die Erbsündenlehre in der Kirche etablierte, in der christlichen Theologie verfestigt. „Die Erbsündenlehre ist kein Gewächs der Bibel“, betont Erlemann, „sondern kommt von Augustin, der wiederum vom Platonismus beeinflusst war. So wurde dann die Ehe mehr und mehr als Fortpflanzungsinstitut betrachtet.“

Apostel Paulus empfiehlt Sex möglichst an jedem Tag

In der Bibel gibt es ein ganzes Buch, nämlich das Hohelied Salomos, eine Sammlung von Liebesliedern, die ein Paar aneinander richtet, in dem in wunderschönen poetischen Bildern die Freude an der erotischen Liebe zum Ausdruck gebracht wird. Es stellt sich unweigerlich die Frage, ob das nicht ein Widerspruch zum `Fortpflanzungsinstitut` ist? „Ja,“ antwortet der Theologe kurz und knapp, denn, „das jüdische, alttestamentliche Menschenbild ist eben nicht das von Augustin, sondern es ist ein einheitliches, ganzheitliches Menschenbild, dass nicht zwischen einer höherwertigen Seele und einem minderwertigen Körper unterscheidet. Der Mensch ist ganzheitlich Mensch mit allem, was er hat, mit Geist, Sinn, Verstand und auch mit Sexualität.“ Das spiegele sich in den poetischen Bildern des Hoheliedes wider, und auch Paulus, dem man ja eine regelrechte Sexfeindlichkeit vorwerfe, erlebt Erlemann anders: „Der Apostel Paulus ist gar nicht so sexfeindlich. Zwar sagt er selber von sich, er sei charismatisch begabt, so dass er Sexualität nicht brauche, aber er kennt auch seine Menschen und weiß ganz genau, Sexualität ist eine wichtige Sache. So wichtig, dass er verheirateten Glaubenden empfiehlt, möglichst jeden Tag Sex zu haben, damit nicht vielleicht irgendwann die Versuchung kommt, es mit einem anderen Partner zu probieren (1 Kor 7). Das war ihm ganz wichtig. Und da ist nicht die Rede davon, jeden Tag Kinder in die Welt zu setzen.“ Auf die Frage, ob die erotische Liebe eine gute Gabe Gottes sei, antwortet er: „Wenn es eine Gabe Gottes ist, dann ist es eine gute Gabe. Wesentlich bei dieser Gabe ist meiner Ansicht nach der Respekt vor dem Partner, vor der Partnerin. Niemand darf zum Sexobjekt degradiert werden, darauf kommt es wesentlich an, und dann ist das eine gute Gabe Gottes.“

Kein Sex ohne Fortpflanzung? – Die Deutung einer Segenszusage

In der Bibel steht: ´Seid fruchtbar, mehrt euch`. Aber ist das gleichbedeutend mit ´kein Sex ohne Fortpflanzung`? Erlemann betont in diesem Zusammenhang den Segensgedanken, der nicht als Befehl ausgelegt werden dürfe. „Es geht um eine Verheißung. ´Ihr werdet fruchtbar sein´, ist erst einmal eine Segenszusage und die ist richtig und wichtig.“ Zudem müsse man auch die Zeit bedenken, in der dieser Text entstanden sei, denn es ging damals um den Erhalt des Volkes Israel in einer fremden Umgebung. Da sei es wichtig gewesen, sich zu vermehren, denn sonst wäre das Volk in der Diaspora untergegangen.

Respekt und Wertschätzung sind wesentlicher als die Frage nach der sexuellen Orientierung

Wenn die Bibel sagt ´Gott schuf sie als Mann und Frau`, wird gelehrt: Es gibt zwei Geschlechter. Die müssen miteinander Sex haben! Aber Sex zwischen zwei Männern ´ist dem Herrn ein Gräuel`. „Homosexuelle Liebe ist in der Antike weit verbreitet“, kontert der Theologe diese Aussage. „Wir kennen das aus griechischen Erzählungen, wo die Homophilie ein ganz verbreitetes Phänomen ist, und sie wird dort auch gar nicht unbedingt negativ bewertet, es war Gang und Gäbe. Man sieht es auch in der Geschichte von Sodom und Gomorrha. Da gibt es nichtjüdische Menschen, die homosexuell sind. Die Abwehr gegen Homophilie hat damit zu tun, dass man sich als Volk von diesen fremden Praktiken versucht zu distanzieren, um die eigene Identität auch in dieser Hinsicht zu bewahren.“ Die historischen Hintergründe sollte man bei biblischen Aussagen grundsätzlich immer mitbedenken, und nicht meinen, man müsse sie 1:1 auf heutige Zustände übertragen. „Wesentlich in jeder Beziehung zwischen Partnern, egal welches Geschlecht sie haben, sind Respekt und Wertschätzung. Diese Dinge sind viel wesentlicher als die Frage, ob die sexuelle Orientierung stimmt.“

Gleichgeschlechtlicher Sex ist Sünde

„Sex als Sünde ist sehr beliebt“, sagt Erlemann, „wir haben Augustin im Hintergrund und die Sexualmoral, die sich davon ableitet. Und die hat sich seit dem 4./5. Jahrhundert bis heute gehalten, zum Teil bis in die Gegenwart hinein.“ Aber es gebe Veränderungen. Dabei müsse man bei den offiziellen katholischen und evangelischen Stellungnahmen differenzieren. „Die EKD (Evangelische Kirche in Deutschland) äußert sich etwas uneinheitlich“, stellt der Wissenschaftler fest, „zwar wird die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare befürwortet, aber ob diese Segnung nun einer kirchlichen Trauung gleichzustellen sei, das wird uneinheitlich beurteilt. Es wird dem Gewissen des diensthabenden Pastors bzw. der Pastorin anheimgestellt, ob er bzw. sie solch eine Segnung vollziehen möchte oder nicht. Hier ist jeder einzelne auch seinem Gewissen verpflichtet.“ In der Katholischen Kirche sehe das anders aus und die Deutsche Bischofskonferenz äußere sich sehr zurückhaltend. „Der Vatikan sagt klar nein zu jeglichen Segnungen und beruft sich auf die überbrachte Sexualmoral der Katholischen Kirche, auch wenn von der Basis häufig gewissermaßen zu Demonstrationszwecken zur Segnung homosexueller Paare aufgerufen wird.“ Die Katholische Kirche unterscheide zwischen dem einzelnen Menschen, der eine Orientierung habe, vielleicht homosexuell sei, und der Institution der Ehe. Auf der einen Seite sei ihnen der Mensch willkommen, egal welche sexuelle Ausrichtung er hat, auf der anderen Seite werde an der Ehe als Sakrament, als von Gott geheiligtes Institut zweier Geschlechter mit dem Zweck der Fortpflanzung, nicht gerüttelt.
Positiv festzuhalten bleibe jedoch, nach Erlemanns Meinung, dass in Deutschland zumindest ein pastorales Umdenken bereits stattgefunden hat.

Die Sünde wird nicht über den Samenleiter weitervererbt

Die Verknüpfung von Sexualität und Schuld im Sinne der von Augustin propagierten Erbsündenlehre ist in Erlemanns Augen zu revidieren. „Die Bibel selber lässt nirgends erkennen, dass sozusagen die Sünde über den Samenleiter weitervererbt würde“, gibt er zu bedenken. „Wenn Paulus über Sünde spricht und den Menschen in der Ursünde Adams stehen sieht, meint er damit nicht die von Generation zu Generation über den sexuellen Akt weitergetragene Sünde, sondern er stellt nüchtern fest: Jeder Mensch tappt in die Fußstapfen Adams, indem er de facto in seinem Leben Schuld auf sich lädt.“ Das sei aktives Tun aus Eigenverantwortlichkeit und habe nichts mit ´Erbsünde´ zu tun. Dass auch die Sexualität schuldhaft missbraucht werden kann, das verurteile Paulus auch, aber hier sei keine Erbsünde im Sinne einer genetischen Logik zu erkennen. „Der Tenor biblischer Aussagen ist, dass man Sex eher mit Spiritualität verknüpfen sollte, und dem schließe ich mich an.“

Beim ersten Mal - und nicht nur beim ersten Mal -  geht für viele der Himmel auf

Die Dimension des Sexuellen dürfe man nicht auf die rein körperliche Ebene reduzieren, erklärt der Theologe, denn es gehe immer um zwei Menschen, die in einer ganz besonderen Art und Weise zusammenwachsen. „Das ist eigentlich eine spirituelle Erfahrung, die man da machen kann. Beim ersten Mal, und nicht nur beim ersten Mal geht für viele der Himmel auf. Das ist eine spirituelle Erfahrung, eine fast mystische Erfahrung, wenn man wahrnimmt, dass man es hier mit einem Partner zu tun hat, mit dem man eins wird. Wenn man diese personale Dimension nicht mitdenkt und mitfühlt, dann entwertet man die ganze Sache, den Partner und sich selber auch.“ Und das sei nicht im Sinne des göttlichen Erfinders.

Jesus und Sex, geht das zusammen?

Im Neuen Testament finden sich Bibelstellen, die Jesus sowohl mit einer Frau als auch mit einem Mann sehr intim darstellen. Auf die Frage, ob man Jesus und Sex auch zusammendenken könne, schmunzelt der Wissenschaftler erst einmal. „Diese Überlegungen sind natürlich sehr medienträchtig und haben schon zu vielen Jesusfilmen geführt, wo Jesus dann eine intime Beziehung zu Maria Magdalena hatte oder vielleicht sogar schwul war und mit dem Lieblingsjünger Johannes zusammen war. All das kann ich nun aus den Textstellen im Neuen Testament nicht herauslesen“, stellt er unmissverständlich klar. Die Sünderin Maria z.B. vollziehe laut Johannes 12,3 eine Zeichenhandlung an Jesus, die einem Leichnam nach der Bestattung als Salbung zustehe, in dem prophetischen Wissen, dass eine Totensalbung später nicht mehr möglich sein werde. Nur, weil sie als Sünderin dargestellt wird und Jesus mit Parfüm einsprüht, sei das noch keine intime Beziehung. „Und in Johannes 13,23, da geht es um den Lieblingsjünger, den Jesus liebhatte und der an seiner Brust lag. Da kann man natürlich eine besondere intime Beziehung herauslesen, aber die muss nicht sexuell oder gar homosexuell gewesen sein. Ich sage es mal so: Laut den Evangelien war Jesus ehelos, er war ein charismatischer Mensch, der eine Mission bzw. eine Vision hatte und diese unter die Menschen brachte. Der Preis für dieses Leben war unter anderem der Verzicht auf Sexualität. Jedenfalls lesen wir nirgends etwas von sexuellen Beziehungen, die Jesus gehabt hätte. Das ist auch für die Bedeutung Jesu als Sohn Gottes, Erlöser der Welt, völlig unerheblich.“ Dass Jesus auf der anderen Seite ein sinnlicher und gefühlsbetonter Mensch war, das lasse sich durchaus in der Bibel erkennen. „Jesus trank auch Wein, er lehnte das Fasten ab, wo es nicht gepasst hat, er sprach in sehr sinnlichen Bildern vom Reich Gottes und hatte Gefühle wie Zorn und Erbarmen.“

Auf dem Weg in eine selbstbestimmte Sexualität?

In der evangelischen Kirche stellen wir heute eine zunehmende gesellschaftliche und rechtliche Anerkennung, vor allem der homosexuellen Orientierung und Lebensform sowie die langsame Öffnung des sexualethischen Diskurses über Homosexualität und Zweigeschlechtlichkeit fest. Es scheint insgesamt mehr Transparenz und Ehrlichkeit in der Auseinandersetzung und Bewertung differenter sexueller Lebensentwürfe zu geben. „Ich erlebe das durchwachsen“, erklärt Erlemann die Situation. Das hänge immer von den Amtsträger*innen ab, die eine Segenshandlung oder Trauung unter Gleichgeschlechtlichen vollziehen sollen. „Ich selber habe schon ein lesbisches Paar in der Evangelischen Studierendengemeinde getraut, ich habe damit keine Probleme, weil für mich andere Facetten der Partnerschaft im Vordergrund stehen. Das sind gegenseitiger Respekt, Wertschätzung, die Liebe dieser Menschen zueinander, die sogar ein Familienleben ermöglicht und einen geschützten Raum schafft, in dem auch Kinder groß werden können. Das kann ich alles erleben.“ Setze man also genau wie bei heterosexuellen Beziehungen auf Treue und Verantwortung, dann sei diese Liberalisierung durchaus nachvollziehbar und längstens an der Zeit. Kirche habe in der Geschichte immer eher reagiert als agiert, daher beginne kirchliches Umdenken in der Regel erst dann, wenn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erfüllt sind. Heute könne auch Jesus wieder ein Vorbild sein. „Wenn man sich ansieht, wie er mit Männern und Frauen umgegangen ist, das war schon revolutionär für seine Zeit. Die Art und Weise, wie er die Menschen um sich herum wertgeschätzt hat, da war er seiner Zeit voraus. Danach wurde das Rad erst einmal wieder zurückgedreht“, sagt Erlemann. Jetzt hätten wir eine gesellschaftliche Öffnung mit Diskussionsfreiraum, und Kirche müsse reagieren. Die EKD jedenfalls, so erlebe er es, reagiere auf angemessene Art und Weise und besinne sich auf andere Aspekte, die in Beziehungen zwischen Menschen wichtig seien.

Warum tut sich die Kirche so schwer mit dem Thema Sex?

„Warum tut sich die Kirche so schwer? Das ist mir eigentlich zu pauschal formuliert“, entgegnet Erlemann. „Es gibt nicht die Kirche. Es gibt unterschiedliche Kirchen, es gibt unterschiedliche Amtsträger*innen, die sich aus unterschiedlichsten Gründen damit schwertun oder eben nicht. Da sind persönliche Befindlichkeiten im Spiel, Vorurteile, Klischees, religiöse Prägungen von Kindheit an und natürlich über tausend Jahre Prägung einer Sexualmoral, die sich nicht in ein paar Jahren rückgängig machen lässt.“
Darüber hinaus plädiert der erfahrene Theologe auch für kritische Zurückhaltung in einer digitalen Welt, die das Thema Sexualität schnell entstellt. Man dürfe nie vergessen, resümiert er, dass man es immer mit Menschen zu tun hat und es daher nicht verkehrt ist, zurückhaltend zu sein. „Man sieht, dass der Bereich Sexualität in den Medien sehr oft verhunzt wird. Sexualität ist ein sehr sensibler Bereich, und das gilt es zu betonen.“

Uwe Blass (Gespräch vom 15.12.2021)

Kurt Erlemann studierte Evangelische Theologie in München, Zürich und Heidelberg. Er promovierte 1986 und arbeitete anschließend als Vikar der Badischen Landeskirche sowie als Schulpfarrer. Nach seiner Habilitation übernahm er Lehrstuhlvertretungen in Hamburg und Koblenz. Seit 1996 leitet er den Lehrstuhl für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche an der Bergischen Universität.

 

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