Der perfekte Mord
Prof. Dr. Peter Imbusch/ Soziologie der Politik
Foto: UniService Transfer

Der perfekte Mord

Der Soziologe Peter Imbusch über einen vermeintlich perfekten Mord und die Diskussion um die Todesstrafe in den USA

Am 21. Mai 1924 töteten zwei Studenten einen ahnungslosen Jungen. Ihr Motiv: Sie wollten den perfekten Mord begehen. Dieser Fall spielte in Amerika eine wichtige Rolle in der Diskussion um die Todesstrafe, oder?

Imbusch: Ja, aber zuvor wäre noch etwas anderes bemerkenswert. Nathan Leopold Jr. und Richard Loeb – zur Tatzeit 19 bzw. 18 Jahre alt – wollten einen perfekten Mord begehen, wobei ‚perfekt‘ hier nicht im Erreichen des Endziels bestand, sondern in einem Mord, der nicht aufgeklärt werden konnte – also straflos blieb. Deshalb wurde in den Medien häufig sensationalistisch auch vom „Jahrhundertverbrechen“ gesprochen, obwohl das Jahrhundert ja zu dieser Zeit noch nicht so alt und der Mord selbst recht unspektakulär war. Seine Bedeutung für die Diskussion um die Todesstrafe in den USA erhielt der Fall quasi als eine List der Geschichte. Denn es war der geschickten Verteidigungsstrategie des von den Eltern beauftragten Anwalts Clarence Darrow zu verdanken, dass eine in diesem Fall und zu dieser Zeit in den USA höchst wahrscheinlich gewesene Todesstrafe für die beiden Missetäter abgewendet werden konnte.

Nathan Leopold und Richard Loeb galten als überaus intelligente junge Männer und waren der Meinung, sie hätten die höhere Daseinsform bereits erreicht. Spielte da Größenwahn eine Rolle?

Imbusch: Vielleicht Größenwahn, aber mehr noch eine elitäre Überheblichkeit. Beide kamen ja aus reichen, deutsch-jüdischen Elternhäusern, lebten in einer wohlhabenden Gegend von Chicago, galten als intelligent und führten eigentlich ein gutes Leben mit glänzenden Zukunftsaussichten, aber spürten anscheinend so etwas wie bürgerliche Langeweile in sich. Durch ihre ganze Sozialisation hindurch pflegten sie den Habitus einer natürlichen Überlegenheit gegenüber ihrer Umwelt. Dies wurde von Leopolds Obsession für die Philosophie Nietzsches und dessen Übermenschentum weiter verstärkt. Im Grunde sah er sich selbst auch als eine Art Übermensch, der außerhalb von Recht und Gesetz stand, für den keinerlei moralische Maßstäbe galten und der die Bewegungsräume von gewöhnlichen Menschen nach Belieben einschränken konnte. Das galt selbst für Mord, den er als akzeptabel betrachtete und der ihm Vergnügen bereitete.

Hinzu kam eine toxische homoerotische Beziehung zu Loeb, der häufig zwecklosen, destruktiven Verhaltensweisen – wie Autos klauen, Brände legen oder Fensterscheiben einwerfen – frönte und schon früh eine kleinkriminelle Karriere hinlegte, ohne gefasst zu werden. Loeb spielte gern mit dem Feuer und erhöhte dabei den Einsatz immer weiter. Seine Taten verschafften ihm ein intensives Hochgefühl. Für seinen Vandalismus konnte er sich auf Leopolds Gefolgschaft verlassen, die ihm zusätzlich das Gefühl vermittelte, er sei ein wahrer Meisterverbrecher. Psychologisch betrachtet waren sie ein ‚perfect match‘, wie man heute sagt.

Dieser Mix aus Überlegenheitsphantasien, Ichbezogenheit und mangelnder Empathie, nihilistischer Philosophie, wilden Kriminalgeschichten und irregeleiteter Liebe hat beide schließlich dazu gebracht, das ‚perfekte Verbrechen‘ zu begehen. Es ging ihnen dabei nicht um den Mord selbst, der lediglich ein Experiment für sie war und vollkommen wahllos erfolgte, sondern um die Idee, ohne Strafe davon kommen zu können. Mord ohne Motiv, ohne Leidenschaft, unbeweisbar und folgenlos – so hatten sich Leopold und Loeb das vorgestellt, als sie am 21. Mai 1924 den 14-jährigen Bobby Franks ermordeten.

Wie reifte die Idee zum Mord an dem 14-jährigen Bobby Franks?

Imbusch: Leopold und Loeb glaubten schließlich, dass sie unfehlbar wären. Sie hatten die Tat monatelang geplant und auch Strategien erdacht, wie sie das Verbrechen vertuschen könnten. Eines Tages war es dann soweit. Das Opfer Bobby Franks war ein reines Zufallsopfer, es war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort; es hätte auch jeden anderen treffen können.

Richard Loeb (links) und Nathan Leopold (1924)
Foto: CC BY-SA 3.0 de

Wie lief die Tat ab?

Imbusch: Am 21. Mai 1924 setzten Leopold und Loeb ihren Plan schließlich um. Sie fuhren wahllos mit einem Mietwagen durch die Stadt, um ein geeignetes Opfer zu finden, verdeckten dabei die Nummernschilder. Am späten Nachmittag wollten sie schon aufgeben, als sie auf Bobby Franks trafen, der sogar ein entfernter Verwandter und Nachbar war, und lockten ihn unter einem Vorwand in das Fahrzeug. Dort schlug ihn Loeb zunächst mit einem Meißel nieder, anschließend knebelten und erstickten sie ihn gemeinsam auf dem Rücksitz. Nachdem Leopold und Loeb die Leiche in einem Graben unter Eisenbahnschienen außerhalb Chicagos versteckt hatten, zuvor aber noch sein Gesicht mit Säure verätzten, um eine Identifizierung zu erschweren, erhielt die Familie des Opfers eine Lösegeldforderung in Höhe von 10.000 US-Dollar. So sollte eine Entführung vorgetäuscht werden. Soweit lief alles nach Plan und bereits am nächsten Tag ging auch Loebs Wunsch in Erfüllung, dass die Medien in Chicago über das Verschwinden des Jungens berichteten. Doch der Vater von Bobby Franks alarmierte die Polizei und noch bevor die Familie das Lösegeld aufgetrieben hatte, fanden Eisenbahnarbeiter bereits zufällig die Leiche. Nun tauchten auch Begriffe wie ‚Leiche‘ und ‚Spuren‘ in den Zeitungen auf, so dass es Loeb und Leopold bald dämmerte, dass irgendwas schiefgelaufen war. Für die Ermittler stand recht schnell fest, dass es sich bei dem getöteten Jungen um Bobby Franks handeln musste.

Sie haben ein Buch mit dem Titel „Soziologie der Hinterhältigkeit“ herausgegeben. Darin sagen Sie im Vorwort bereits: „…auch für die hinterhältig agierende Person ist das gewünschte Ergebnis der Hinterhältigkeit – wie bei jedem sozialen Handeln – nicht vollständig planbar. Das erhoffte Resultat muss nicht zwangsläufig eintreffen, vielmehr ist der Ausgang prinzipiell offen.“ Gibt es also keinen perfekten Mord?

Imbusch: Ja, das kann man heute wohl sagen: Es gibt keinen perfekten Mord mehr. Das heißt aber nicht, dass es nicht noch unentdeckte Morde geben kann, also Taten, die nicht als Mord klassifiziert wurden. Heutzutage ein ‚perfektes Verbrechen‘ zu begehen, dürfte jedoch angesichts der Fortschritte in der Kriminaltechnik sehr unwahrscheinlich sein. Früher oder später kommt man Mördern auf die Spur. Mord als Straftat verjährt nicht, und die Aufklärungsquote ist in diesen Fällen doch sehr hoch. Aber es kommt immer auch auf die Zeitumstände und sozialen Verhältnisse an. Wenn man an die Zeitumstände und gesellschaftlichen Verhältnisse in den USA vor 100 Jahren zurückdenkt, dann hat man die Täter eher nicht in begüterten, weißen Wohngegenden gesucht, Rassismus und Klassenjustiz waren die Regel. Das dürfte auch für Leopold und Loeb zumindest unterschwellig ein gewisser Anreiz gewesen sein, es zu versuchen.

Sie schreiben weiter: „Das Phänomen der Hinterhältigkeit (ist) soziologisch ein praktisch unerforschtes Feld geblieben, obwohl hinterhältige Verhaltensweisen ein in nahezu allen menschlichen Gesellschaften und Gesellschaftsformationen auftretender und zu beobachtender sozialer Tatbestand sind.“ Woher kommt das?

Imbusch: In Bezug auf die Soziologie kann man zum einen sagen, dass sich die Wertvorstellungen und Orientierungen eher auf pro-soziales Verhalten beziehen, zum anderen, dass viele Soziolog*innen modernisierungstheoretisch an eine gelungene Zivilisierung glauben, die Gewalt zurückgedrängt oder gar überwunden hat. Denken Sie daran, dass man immer sagt, Gewalt sei „abweichendes Verhalten“ – und abweichend heißt hier von der herrschenden Norm der Gewaltfreiheit. In Bezug auf die Ubiquität hinterhältiger Verhaltensweisen muss man etwas kulturkritisch daran erinnern, dass solche Verhaltensweisen vielleicht auch zur anthropologischen Grundausstattung der Menschen gehören, sie also einfach etwas machen, weil sie es können oder sich etwas davon versprechen.

Die beiden Studenten wurden relativ schnell geschnappt. Wodurch?

Imbusch: Ganz genau, da offenbart sich alles andere als ein perfektes Verbrechen. Am Fundort wurde neben der Leiche die teure und besondere Brille von Leopold gefunden, die eine Spezialanfertigung war, die nur drei Personen im Großraum Chicago besaßen. So war es leicht, dessen Besitzer nachzuverfolgen. Zudem war die Lösegeldforderung auf einer Schreibmaschine getippt worden, die dieser zusammen mit einigen Studienkollegen genutzt hatte. Während des nachfolgenden Verhörs fielen die Alibis der beiden Täter in sich zusammen. Beide gestanden schließlich das Verbrechen, bezichtigten sich jedoch wechselseitig der eigentlichen Tötung Bobby Franks.

Was wurde aus ihnen?

Imbusch: Beide wurden verhaftet und der Staatsanwalt forderte die Todesstrafe für sie. Die Eltern von Leopold und Loeb engagierten nun aber Clarence Darrow als Verteidiger, der die Todesstrafe geschickt abzuwenden wusste. Er entschied sich zunächst überraschenderweise dafür, bei den beiden Tätern auf schuldig zu plädieren und die beiden gestehen zu lassen. Das führte dazu, dass der Prozess nicht mehr vor einer großen Jury mit Geschworenen, die aller Wahrscheinlichkeit nach wegen der Kaltblütigkeit und Grausamkeit für die Todesstrafe plädiert hätten, sondern vor einem Einzelrichter verhandelt wurde. Darrow nutzte nun die Verhandlung als Bühne für seinen Kampf gegen die Todesstrafe und brachte den Richter dazu, von der Todesstrafe abzusehen. Im September 1924 verurteilte er schließlich Leopold und Loeb zu je 99 Jahren Gefängnis. Während Loeb seine Strafe in einer Haftanstalt in Illinois verbüßte, wurde er 1936 nach elf Jahren Haft von seinem Mithäftling James Day erstochen, der sagte, dass Loeb ihm sexuelle Avancen gemacht habe. Leopold wurde schließlich 1958 begnadigt und setzte sich anschließend nach Puerto Rico ab. 1961 heiratete er die verwitwete Sozialarbeiterin Trudi Feldman, bevor er am 30. August 1971 an einem Diabetes bedingten Herzinfarkt starb.

Uwe Blass

Prof. Dr. Peter Imbusch studierte Soziologie, Politikwissenschaften, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sowie Volkswirtschaftslehre und promovierte zur Sozialstrukturanalyse Lateinamerikas. Er habilitierte sich 2001 mit einer Arbeit über „Moderne und Gewalt“. Seit 2011 lehrt er als Professor für Politische Soziologie an der Bergischen Universität.

 

 

 

 

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