Beginn des Schulsportunterrichts
Prof. Dr. Eckart Balz / Sportwissenschaft
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Vom strammen Ordnungsturnen zum vielfältigen Sportunterricht

Ein Jahr100Wissen-Interview mit dem Sportpädagogen Prof. Dr. Eckart Balz zur gesetzlichen Aufnahme des Schulsportunterrichts 1921

Am 2.8.1921 erarbeitete der Reichsausschuss für Leibesübungen einen Gesetzesentwurf, nach dem in Schulen der Sport in den Lehrplan aufgenommen werden musste. Das verpflichtete Jugendliche bis zur Volljährigkeit zu körperlichen Übungen. Wie sah der Sportunterricht denn damals aus?

Balz: Das Datum 1921 ist für uns in der Sportwissenschaft und Sportpädagogik kein besonderes. Für uns ist das Fach Sport viel älter als 100 Jahre. Ich will jetzt nicht zurückgehen auf die Gymnastik bei den Griechen, wir müssen auch nicht bei den Philanthropen gucken, die nur Internate für gutbetuchte Bürger und deren Kinder hatten. Aber der eigentliche Startschuss, mit dem wir den Beginn eines Faches in der Schule verbinden, der liegt im Jahr 1842. Dieses Datum war nur bezogen auf Preußen, weil in Preußen die Aufhebung der Turnsperre auf öffentlichen Turnplätzen erfolgte. Das war dem Obrigkeitsstaat sehr suspekt und er verbot das u.a. auch wegen deutschnationaler Gründe. Irgendwann waren der Druck und auch der politische Wille dann so, dass man sie gewähren ließ. Ab 1842 war also wieder Turnen auf dem Turnplatz erlaubt. Zu diesem Zeitpunkt startet auch die Möglichkeit der Schulen, das Turnen als Unterrichtsfach anzubieten.
Es ist ein ganz langsamer Entwicklungsprozess, der in Preußen startet und dem sich andere Länder wie Württemberg oder Baden anschließen. Zunächst sind es die höheren Schulen, später dürfen aber auch die Volksschüler turnen. Es betrifft nicht nur Jungen, am Ende der Kaiserzeit sollen auch die Mädchen turnen. Und in der Weimarer Republik war es noch nicht der Sport, sondern es waren die Leibesübungen: vielschichtig und widersprüchlich, wie die Weimarer Zeit insgesamt. Da gab es erste Sportarten wie z.B. den Fußball aus England, es gab das Turnen aus der Kaiserzeit, die Wandervogelbewegung, die raus aus den Städten wollten, es gab das Schwimmen sowie auch Gymnastik und Tanz. Alles in allem schon eine gewisse Vielseitigkeit, verbunden mit einem Streit darum, was die Leibesübungen in den 20er Jahren genau sein sollten.

Spaß am Sport hatten damals wohl die Wenigsten. Turnvater Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852) ging es z.B. in erster Linie darum, deutschnationale Interessen mit stählerner Muskelkraft zu verteidigen. Sport diente der Wehrertüchtigung und Volkserziehung. Nicht die hohe Kunst an Reck, Barren und Pferd war gefragt, sondern Laufen, Springen, Werfen, Klettern, Ringen, Schwimmen und Wandern. Was änderte sich ab 1921 und vor allem, wer übernahm den Sportunterricht?

Balz: Das Turnen hatte deutschnationale Interessen und wurde dann auch in der Schule für Zwecke der Wehrertüchtigung mitgenutzt. Aber letztlich ist es ein Missverständnis, denn Jahn hat mit dem schulischen Turnen nur wenig zu tun. Das schulische Turnen geht zurück auf Karl Adolf Spieß. Und wenn man Spieße der Bundeswehr kennt, weiß man, der Name ist Programm. Das war kein Turnen wie bei Jahn auf öffentlichen Plätzen mit großen Holzgeräten, von denen man springen, auf die man klettern oder von denen man schwingen konnte und aus denen sich die heutigen Turngeräte entwickelt haben, sondern das Turnen nach Spieß war ein Ordnungsturnen. Das wurde auch ganz plastisch Gliederpuppenturnen genannt. Die Schüler*innen, meist noch geschlechtlich getrennt, bewegten sich wie Marionetten des Lehrers und wurden von ihm auf Kommandos in Reih und Glied aufgestellt und zu bestimmten Übungen aufgefordert. Das war ein strammes Ordnungsturnen und hatte natürlich auch den Zweck in der Kaiserzeit, die Jungen fit zu machen für ein koloniales Wehrmachtsbestreben. Es sind zwei Dinge: das außerschulische Turnen nach Jahn und das schulische Turnen nach Spieß. Und in den 20er Jahren gab es noch mehr: Turngeräte wie der Barren fanden den Weg in die Schule, es gab zwar weiter das Ordnungsturnen, aber auch kleine Spiele, es gab das Wandern, erste Sportarten und den Tanz. Der Kanon öffnet sich deutlich.
Und wer macht bzw. unterrichtet es? Es gibt damals schon Ausbildungsinstitute, nicht nur in Berlin. Dort werden an Bildungsanstalten bereits Lehrende akademisch ausgebildet, auch im Fach Sport, aber es wurde natürlich auch schon damals fachfremd unterrichtet.

In den Quellen liest man immer wieder, dass die Geschichte des deutschen Schulsports unter militärischen Aspekten erst mit dem Dritten Reich endete. Wie veränderte sich der Sportunterricht nach 1945?

Balz: Beim Einführen des Faches wurde vom „siechen Gepräge“ der Jugend gesprochen und dem wichtigen Argument der Gesundheit. Damals sehr dominant, heute glücklicherweise nicht mehr, war die militärische Komponente. Wie soll eine sieche Jugend in unserem Militär ihren Dienst verrichten? Laufen, Schwimmen, das Gewehr halten, Durchmarschieren, das waren ganz wichtige Argumente für die Einführung des Turnens, zusätzlich natürlich in der Kaiserzeit die Kolonialpolitik. In der Weimarer Zeit ruderte man dann nach dem ersten Weltkrieg zurück. Da waren die militärischen Akzente in der Vielseitigkeit der Leibesübungen wenig bis kaum noch zu entdecken. Dann folgte die schlimmste Zeit, wo die Leibesübungen in der Schule unter dem Nationalsozialismus zu einer ideologischen Körperertüchtigung wurden: Volk, Wehr, Rasse und Führer, so sollte auch die Körperertüchtigung in der Schule funktionieren. Da wurden Gepäckmärsche gemacht oder Kleinkaliberschießen geübt und es gab Boxen in der Oberstufe. Es war die Körperertüchtigung der Herrenrasse, die da praktiziert wurde.
Und nach 1945 gab es zunächst gar keinen Sportunterricht. Deutschland war zerstört, Sport war nachrangig. Mit dem aufkommenden Gesundheitsargument ändert sich das. Die Kinder waren unterernährt, schwach und schlapp, und sollten nun neben angemessener Ernährung in der Schule auch das Fach Sport erhalten. Das war sehr widersprüchlich unter den Alliierten, weil eben in der Nazizeit das Fach ideologisch missbraucht wurde, und das wollte man so nicht wieder einführen. Erst gegen Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre konnte das Fach wieder, auch mit politischem Willen, fest in die Schulen zurückkehren. Danach, in den 60er Jahren gab es zwei Richtungen: In der ehemaligen DDR gab es eine Körpererziehung, die sehr stark an einem sozialistischen Menschenbild orientiert war und in der Bundesrepublik gab es eine sogenannte Leibeserziehung. Das war noch nicht der heutige Sport. Die Kinder sollten lernen zu üben, z.B. beim Turnen, zu Wettkämpfen, in der Leichtathletik bei ersten Sportarten, oder sie sollten Bewegung gestalten wie beim Tanzen. Das sind die Bildungsgehalte der Leibeserziehung. Zwei unterschiedliche Ausrichtungen, die aber schon vor der Wiedervereinigung 1990 zusammenkamen. In den 70er Jahren, also Olympische Spiele 1972 in Deutschland, da beginnt die große Karriere der Sportarten. Und da habe ich keine Körper- oder Leibeserziehung mehr, sondern dann habe ich vielmehr Sportunterricht.

Sport in der Schule ist heute zu einem festen Bestandteil des Bildungsangebots geworden. Alle gesellschaftlichen Gruppen und politischen Parteien sehen im Sport ein wichtiges Mittel der Gesundheits- und Sozialerziehung. Nach welchen Kriterien wird heute guter Sportunterricht vermittelt?

Balz: Zwei wichtige Aufgaben in dem großen Spektrum der Aufgaben und Ziele des Faches Sport in der Schule: Einmal die Gesundheitsförderung, da geht es um das Vermeiden von Verletzungen sowie eine aktive, gesundheitsbewußte Lebensführung mit Ernährung und Bewegung und zum Zweiten die Sozialerziehung, in der man Fair Play fördert. Diese beiden Zielsetzungen korrespondieren mit der Grundauffassung, mehrperspektivischen Sportunterrichts. Heute wird Sport nicht mehr so vermittelt, dass es nur darum geht, Sportarten zu lernen, sondern dass man Sport unter bestimmten Perspektiven kennenlernen kann, also ein Sportspiel so kennenlernen kann, dass möglichst alle mitspielen, fair mitspielen können und man Regeln vereinbart. Ein anderer Aspekt ist die Wagniserziehung, was wie „No Risk – No Fun“, spannende abenteuerliche Unternehmungen wie Klettern, Balancieren, Natursportarten ausprobieren, die aber gleichzeitig naturschonend und nachhaltig praktiziert werden. Dann die Perspektive der Bewegungsgestaltung und Ästhetik, die oft zu kurz kommt, vor allem bei den männlichen Schülern, also einer Bewegung Ausdruck zu verleihen, Komposition und Gestaltung gemeinsam zu entwickeln. Der Schulsport soll heute unter verschiedenen Perspektiven so thematisiert werden, dass wir den Schüler*innen die Sport- und Bewegungskultur erschließen und sie etwas für ihre soziale und gesunde Entwicklung mitnehmen. Dabei bin ich kein Missionar, denn wenn Schüler*innen aus Erfahrung und Einsicht sagen, ich habe das zwar alles kennenglernt, aber in meiner Freizeit mache ich lieber Musik und fahre mit dem Fahrrad zur Arbeit, da brauche ich keinen Sport, dann ist das auch in Ordnung.

Alle zehn bis 15 Jahre wird der Lehrplan im Durchschnitt angepasst. Auch im Sport?

Balz: Ja, das stimmt, auch im Sport. Hier in NRW ist ja ehemals das Landesinstitut für Schule in Soest auch für die Curriculum -Arbeit zuständig, die wird dort organisiert und findet dort auch statt, heute heißt es QUA-LIS (Qualitäts- und Unterstützungs-Agentur – Landesinstitut für Schule) in Soest, da werden die Lehrpläne gemacht. In der vorletzten Lehrplangeneration Anfang der 2000er, auch im Fach Sport, da sind die Lehrpläne noch mal pädagogischer, mit einem erzieherischen Anspruch stärker unterfüttert worden. Dann kam vor gut 10 Jahren die neue Lehrplangeneration, das war dann die große Kompetenzwende. Wir hatten schlecht abgeschnitten bei Pisa, IGLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) usw., und daher mussten wir stärker auf den Output gucken: Was sollen die Schüler*innen am Ende können? Welche Kompetenzen sollen sie im Fach Sport erwerben? Diese Lehrpläne gelten jetzt noch, und für mich ist nicht absehbar, was folgen wird, also wie das nächste große sportbezogene Thema aussehen soll. Für die Lehrpläne aller Schulformen, also vom Grundschulsport bis hin zum Berufskolleg, sind die Rahmenvorgaben für den Schulsport der Mantel aller einzelnen Kernlehrpläne. Und darin ist diese Idee von Mehrperspektivität, den Sport zu erschließen und die Entwicklung zu fördern, festgeschrieben.

Wieviel Pädagoge steckt in einem/einer guten Sportlehrer*in?

Balz: Es gibt dazu eine Lehrer*innenforschung und wir wissen, dass Sportunterricht leider oft auch evasiv, also ausweichend unterrichtet wird, ohne pädagogischen Anspruch. Aber das ist nicht akzeptabel, denn die Leute sind ausgebildet und werden gut bezahlt in Deutschland. In einer Sportlehrkraft steckt in der Regel ein hundertprozentiger Pädagoge. Was über alle Fächer für Lehrkräfte in Schulen gilt, sind vier Grundkompetenzen: Sie müssen unterrichten, erziehen, beurteilen und sie müssen innovieren, also das Fach weiterentwickeln, können.
Das Fach Sport wird oft auch die Insel der Freude oder Entschleunigung genannt, d.h. wir vertreten ein Fach, das viele Schüler*innen auch besonders lieben. Ein Fach, das nicht mit Sitzen und Arbeiten schreiben verbunden ist, sondern die Gemeinschaft fördern kann, wenn alle die Möglichkeit haben, mitzumachen. Dadurch entsteht Freude, die das Fach wie kein zweites vermitteln kann, weil es auch körperlich zu spüren ist. Und dann ist der Auftrag des Pädagogen erfüllt.

Uwe Blass (Gespräch vom 02.06.2021)

Prof. Dr. Eckart Balz leitet den Arbeitsbereich Sportpädagogik am Institut für Sportwissenschaft in der Fakultät Human- und Sozialwissenschaften der Bergischen Universität. 2017 übernahm er bei der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft das Amt des Vizepräsidenten für den Bereich Bildung. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Planungsdidaktik, Schulsportforschung sowie Sportentwicklung.

 

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