Gleichberechtigung an Universitäten
Prof. Dr. Astrid Messerschmidt / Erziehungswissenschaft
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Der lange Weg der Gleichberechtigung an Universitäten

Ein Jahr100Wissen-Interview mit der Erziehungswissenschaftlerin
Prof. Dr. Astrid Messerschmidt


Der 07. Oktober 1920 markiert eine wichtige Änderung im Bildungssystem der Universitäten. An der Oxford University durften die ersten 100 Frauen dieselben akademischen Grade erwerben wie ihre männlichen Kommilitonen. Wie kam diese Entscheidung zustande?

Messerschmidt: Die Oxford University kann als Eliteausbildungsstätte eingeordnet werden. Hier waren die Hürden für Frauen in der akademischen Alltagskultur besonders hoch. Männlichkeitsideale, Corpsgeist und etablierte Clubs für die sogenannten „Gent-lemen“ prägten das Campusleben. Die Öffnung kam vor diesem Hintergrund nicht durch ein Umdenken innerhalb des Universitätssystems zustande, sondern ist von den Frauenbewegungen erkämpft worden. Bereits 1878 hatte sich die Vereinigung für die Hochschulbildung von Frauen gegründet und verschiedene Colleges für Frauen waren eingerichtet worden. Dennoch dauerte es noch über vierzig Jahre bis den Frauen ein gleichwertiger akademischer Abschluss und der reguläre Mitgliedsstatus an der Oxford University ermöglicht worden ist. Annie Rogers war die erste Frau, die 1877 in Oxford einen Abschluss 'Examinations for Women' machte. Frauen konnten bis 1920 nur die-se, nicht formal anerkannten Abschlüsse in Oxford erhalten. Zwar konnten Frauen seit 1904 bereits ihre Abschlüsse anerkennen lassen. Dies war aber nur durch ein Abkom-men zur Gleichstellung von (ursprünglich männlichen) Studierenden zwischen den Uni-versitäten Oxford, Cambridge und Trinity ermöglicht worden, demzufolge Abschlüsse dieser Studierenden an allen drei Einrichtungen anerkannt wurden.
Die Frauen mussten umständlichere Wege gehen und sich auf den Weg nach Dublin machen, um dort ihre Abschlüsse anerkennen zu lassen, die sie in Oxford und Cambridge erworben hatten. Weil sie mit einer dampfgetriebenen Fähre übersetzten, wurden sie als „Steamboat Ladies“ bezeichnet. Über 700 Frauen machten sich zwi-schen 1904 und 1907 auf diesen Weg. Seit 1870 gab es in Cambridge reine Frauen-kurse am Newnham College. Das College der Universität Dublin (Trinity) öffnete 1904 die Türen für Studentinnen. Die ersten Versuche von Frauen, nicht nur ein Zertifikat ihrer Hochschule, sondern auch einen Akademischen Grad zu erhalten, scheiterten in den 1880er Jahren mehrfach. Die männlichen Studenten und ihre Anhänger demons-trierten gegen die Zulassung von Frauen. Auch am Trinity College Dublin war der Zugang zu akademischen Abschlüssen hart erkämpft worden und bis 1904 mehrfach gescheitert.
Bis Ende des 19. Jahrhunderts war die Universitätsleitung in Oxford davon überzeugt, dass die Anwesenheit von Frauen auf einem männlich geprägten Campus die Moral der Studenten untergraben würde. Bis 1957 war die Anzahl der Frauen in Oxford übrigens limitiert. Es durften nicht mehr als 870 Frauen dort studieren. Diese zögernden, von Befürchtungen und Abwehrmaßnahmen begleiteten Öffnungen zeigen, wie stark das Bild von Frauen als Fremdkörper an der Universität gepflegt und verteidigt worden ist.

Zwar wurde 1878 bereits mit Lady Margret Hall das erste reine Frauencollege gegründet, aber Gleichberechtigung sah damals noch anders aus, oder?

Messerschmidt: Gleichberechtigung ist kein Ad-hoc-Geschehen. Eher lässt sie sich als langwieriger Prozess beschreiben, der keineswegs ungebrochen verlaufen ist. Die Vorstellungen über vermeintliche besondere Eigenschaften von Frauen – aus der Perspektive von Männern in den Institutionen – sind dabei einflussreich gewesen und haben auch heute noch Auswirkungen auf die akademischen Karrierewege von Frauen. Das exkludierende Bildungsdenken war männlich geprägt und bezweifelte die intellektu-ellen Fähigkeiten von Frauen. Dabei wurde immer wieder auf die körperlichen Beschaffenheiten des weiblichen Geschlechts Bezug genommen, die angeblich einer akademischen Tätigkeit im Wege stünden. Der Fortschritt hin zu mehr Gleichberechtigung kam auch hier nur durch das Engagement der Frauen selbst zustande. Die Wirkungen dieser ausgrenzenden Frauenbilder reichen weit in das 20. Jahrhundert hinein. Noch in den 1950er Jahren hielten mehr als ein Drittel der befragten deutschen Professoren Frauen für unfähig, eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Das Pseudo-Argument der „Natur der Frau“ wurde für diese Ausgrenzung immer wieder angeführt.
Hochschulen in England, die speziell für Frauen gegründet wurden, wie die Somerville (1879), Lady Margaret Hall (1879), St. Hugh's Hall (1886), and St. Hilda's (1893) boten Frauen eine Chance, abseits der Männerbünde zu studieren. Insofern würde ich diese schon als wichtige Institutionen der Gleichberechtigung in Bildung und Wissenschaft einordnen. In Deutschland waren die Mädchengymnasien ebenfalls institutionelle Meilensteine auf dem Weg zur Bildungsgleichstellung der Geschlechter. Denn auch wenn dort lange das Ideal der „kultivierten Häuslichkeit“ vermittelt wurde, so boten sie doch Zugänge zu höherer Bildung. Zugleich zeigt sich hier wie in England, dass diese Zugänge zunächst nur für die Töchter privilegierter Familien offen waren. Wenn wir also über die Geschlechtergeschichte in der Bildung sprechen, ist zugleich die Klassenungleichheit zu berücksichtigen, was auch für die Frauenbewegungen immer wieder ein wichtiges Thema und eine Schwierigkeit gewesen ist. Die Aktivitäten zur Gleichstellung der Geschlechter in Oxfdord, Cambridge und anderen europäischen Universitäten sind in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts mit weiter bestehenden Ungleichheiten konfrontiert, die allen Emanzipationsfortschritten widersprechen. 1922 hatte das „British Empire“ etwa ein Viertel der Weltbevölkerung kolonisiert, und der europäische Kolonialismus sollte noch Jahrzehnte andauern. Den Bevölkerungen der Kolonien waren die Wege zur Gleichberechtigung weitgehend verstellt. Auch damit setzten sich Protagonistinnen der Frauenbewegungen auseinander, weil einige von ihnen den Widerspruch bemerkten. Viele blieben demgegenüber jedoch ignorant.

Die Historikerin, Schriftstellerin und Archäologin Gertrude Bell, studierte in Oxford ab 1886. An den Vorlesungen nahmen sie und ihre Mitstudentinnen nur als Gasthörerinnen teil und wurden in der Regel von einer Anstandsdame zu den Vorlesungen begleitet. Und obwohl sie 1888, kurz bevor sie zwanzig Jahre alt wurde, ihr Studium der Zeitgeschichte als erste Frau mit der höchsten Auszeichnung abschloss, wurde ihr als Frau kein akademischer Grad verliehen. Wurde das Studium nur als Zeitvertreib für höhere Töchter angesehen?

Messerschmidt: Die Verweigerung des akademischen Grades trotz eines erfolgreichen Studiums zeigt, wie männliche Privilegiensicherung funktioniert hat. Denn es war klar, dass in dem Moment, wo auch Frauen die gleichen akademischen Grade erwe-ben können, die Konkurrenz auf dem Markt größer wird. Dies galt es möglichst lange zu verhindern, und zwar vor allem durch die „höheren Söhne“, denn auch das Männer-studium war von Klassenungleichheiten geprägt. Dass gegenüber den männlichen Studierenden der Vorbehalt des Zeitvertreibs kaum ausgesprochen worden ist, zeigt, dass die männlichen akademischen Leistungen als wertvoller eingeordnet wurden.
Gertrude Bell entstammte einer angesehenen Familie britischer Industrieller. Ihre Eltern ermöglichten ihr ab 1886 ein Studium an der University of Oxford. Als sie ihr Studium abschloss, gab es noch keine Möglichkeit für Frauen, den akademischen Grad zu erwerben. Sie wurde später durch ihre Reisen in den Nahen Osten bekannt, über die sie ausführlich berichtete. Bemerkenswert und aus heutiger Sicht irritierend an ihrer Biogra-fie ist, dass sie sich in der „British Women’s Anti-Suffrage League“, eine konservative Bewegung, die für einen „domestic feminism“ eintrat, engagierte und gegen die Einführung des Frauenwahlrechts kämpfte. Dies stand in besonderem Kontrast zu ihren ausgeprägten Reisetätigkeiten. Von den Suffragetten sahen die Anhängerinnen der League die „englische Weiblichkeit“ bedroht. Gerade an der Persönlichkeit von Gertrude Bell zeigen sich die Bindungen an Ideale, die durch eine Festlegung des Weiblichen auf spezifische Eigenschaften geprägt waren und denen auch Frauen anhingen, die ganz andere Wege eingeschlagen hatten.

1864 lässt die Uni Zürich als erste deutschsprachige Hochschule Studentinnen zu, 1896 werden Gasthörerinnen in Preußen zugelassen, das Großherzogtum Baden lässt 1900 als erstes deutsches Land Frauen als ordentliche Studierende an den Universitäten Freiburg und Heidelberg zu und ab 1909 dürfen Frauen in allen deutschen Ländern studieren, ab 1921 auch habilitieren. Die Gleichberechtigung von Studentinnen und Studenten hat auch danach immer wieder Höhen und Tiefen gehabt. Welche Gründe gab es dafür?

Messerschmidt: Im deutschen Kaiserreich, das in zahlreiche Fürstentümer fragmentiert gewesen ist, deren Nachwirkungen noch heute im föderalen Bildungssystem spürbar sind, war der Weg der Frauen an die Universität ebenfalls voller Hindernisse. Auch hier spielte die männlich geprägte Universitätskultur eine große Rolle. Einflussreiche Netzwerke der Studenten in Form von Burschenschaften und Kameradschaften waren exklusiv für Männer vorgesehen und regelten die Zugänge zu den Fakultäten. Dies hat akademische Gepflogenheiten geprägt und lange nachgewirkt. Die Gleichberechtigung wurde nicht gewährt, sondern durch vielfältige Aktionen und Organisationen aus den Frauenbewegungen heraus erkämpft. Daran zu erinnern, ist heute wichtig, weil für viele der heutigen Studentinnen und Studenten die Ausgrenzung und Benachteiligung von Frauen nicht in ihrem eigenen Alltag erfahrbar sind oder nicht bemerkt werden. Sie sind indirekter und subtiler geworden und unterscheiden sich stark von den Verhältnissen vor einhundert Jahren. Dass die Gleichberechtigung so mühsam erkämpft werden musste und so diskontinuierlich verlaufen ist, macht klar, dass es sich um eine fragile und immer wieder angefeindete Errungenschaft handelt. Jahrestage wie der 7. Oktober 1920 können das Gesellschaftsgedächtnis dafür sensibilisieren.

Frauen haben heute an bundesdeutschen Hochschulen die gleichen Chancen wie ihre männlichen Kommilitonen. Würden Sie diesem Satz voll zustimmen?

Messerschmidt: Im Jahr 2019 war jeder vierte Lehrstuhl an deutschen Universitäten und Hochschulen von einer Frau besetzt, während der Anteil an Promotionen fast die Hälfte ausmachte, der an Habilitationen etwas weniger als ein Drittel. Es hat in den letzten Jahren Fortschritte bei der Gleichstellung von Frauen im akademischen Bereich gegeben. Dafür haben sich viele Frauen eingesetzt, und ohne die formalen Schritte der Gleichstellung, die gesetzlich verankert worden sind, wäre das nicht zustande gekommen. Je höher in der akademischen Hierarchie die Stellen zu besetzen sind, umso geringfügiger fällt dieser Fortschritt aus. Von 1997 bis 2017 stieg der Anteil von Professorinnen von neun auf 23,4 Prozent. Das ist zwar erheblich, hat aber ziemlich lange gedauert und ist noch weit von einer wirklichen Gleichstellung entfernt. Immer noch gibt es Hürden für Frauen, wenn sie eine Familie gründen und immer noch bewirkt die Möglichkeit der Schwangerschaft an den Entscheidungsstellen der Personalrekrutierung, auf Nummer sicher zu gehen und sich doch lieber für einen Mann auszusprechen. Allerdings widerspricht das den eingeführten Prinzipien der Gleichstellung, was es tatsächlich schwieriger macht, die Vorbehalte gegen die Einstellung von Wissenschaftle-rinnen an der Universität ungebrochen zur Geltung kommen zu lassen. Das ist immerhin erreicht worden.

Uwe Blass (Gespräch vom 24.9.2020)
 

Prof. Dr. Astrid Messerschmidt habilitierte sich für Pädagogik 2009 am Fachbereich Humanwissenschaften der Technischen Universität Darmstadt. Sie arbeitete u.a. als Professorin für Interkulturelle Pädagogik/Lebenslange Bildung an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Seit 2016 forscht und lehrt sie als Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Geschlecht und Diversität an der Bergischen Universität.

 

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