Die schönste Mumie der Welt
Prof. Dr. Thorsten Benter / Physikalische und Theoretische Chemie
Foto: Sebastian Jarych

Rosalia Lombardo, die schönste Mumie der Welt und das Rätsel um Formaldehyd

Ein Jahr100Wissen-Interview mit dem Leiter der Arbeitsgruppe Physikalische
und Theoretische Chemie, Prof. Dr. Thorsten Benter


Mumien faszinieren seit jeher die Menschen. Meist denkt man dabei an die ägyptischen Pharaonen, doch Mumien gibt es in allen Erdteilen. Die bis heute Besterhaltene ist jedoch die eines kleinen Mädchens aus Palermo: Rosalia Lombardo. Vor 100 Jahren starb sie im Alter von zwei Jahren an der Spanischen Grippe und liegt in den Katakomben von Palermo. Rosalia scheint in ihrem Glassarg zu schlafen. Der Einbalsamierer, Alfredo Salafia, der das Mädchen für die Ewigkeit vorbereitete, und sie somit perfekt erhielt, gab die Rezeptur zu Lebzeiten nicht bekannt. Im Nachlass des Mediziners fand Dario Piombino Mascali von der Universität Palermo ein Manuskript, in dem Salafia den Gebrauch von Formaldehyd beschrieb. Um welchen Stoff handelt es sich dabei?

Benter: Formaldehyd ist eine chemische Verbindung, die aus zwei Atomen Wasserstoff und jeweils einem Atom Kohlenstoff und Sauerstoff besteht und in der „Summenschreibweise“ als H2CO angeschrieben wird. Das Kohlenstoffatom sitzt im Zentrum und ist von den anderen Atomen umgeben. Der Grund ist folgender: Die Bindungsform zwischen zwei Atomen geht häufig mit einer bestimmten Reaktivität (und einer daraus re-sultierenden Funktion) einher, insbesondere in der Organischen Chemie. Im Formaldehydmolekül ist vor allem die C=O oder Carbonyl-Gruppe (oder -Funktion) von Bedeutung. Moleküle, die diese Funktion besitzen und zusätzlich ein weiteres Wasserstoffatom - oder sogar zwei Wasserstoffatome, wie im speziellen Fall vom Formaldehyd - an dieses Kohlenstoffatom gebunden haben, bezeichnet man als Aldehyde. Formaldehyd (oder Methanal, H2CO) ist bei Raumtemperatur und Normaldruck eine farblose, gasförmige Substanz. Der Siedepunkt liegt bei etwa 20 °C, der Schmelzpunkt bei -117°C. Leitet man den gasförmigen Formaldehyd in Wasser ein, so kommt man zu einer wässrigen Lösung, die Formalin genannt wird. Formalin wird im Handel von verschiedenen Herstellern angeboten. Der Formaldehydgehalt der Lösung wird in den meisten Fällen in Massenprozent angegeben und in verschiedensten Gebinden vertrieben. Übliche Gehalte sind 37% Formaldehyd. Der auf solchen Gebinden befindliche Verwendungszweck für diese Lösungen dient fast immer zur Sterilisation, zur Fixierung von Geweben und Zellen usw. und gibt schon einen deutlichen Hinweis auf seine Wirkungsweise im menschlichen Körper.

Da Salafia auf die bis dahin schädlichen Gifte Arsen und Quecksilber zur Einbalsamierung verzichtete, blieben auch alle inneren Organe erhalten. Was bewirkt Formaldehyd im menschlichen Körper?

Benter: Diese Frage kann aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet und auf mehrere Weisen beantwortet werden. Die Wirkung einer Substanz auf einen Organismus hängt immer von der Dosis der Verabreichung oder Exposition ab. Es ist entscheidend, ob dieser Organismus bereits tot ist, oder nicht. Lebt der Organismus, gehen wir beispielhaft von einem Menschen aus, würde man ihm kaum Formalin oral oder per Infusion zuführen, oder gar einer dichten Gasatmosphäre von Formaldehyd aussetzen. Vielmehr würde man die Exposition so minimal wie möglich halten. Möchte man hingegen einen toten Menschen konservieren, d.h., seine äußere Erscheinung so lange wie möglich erhalten, dann würde man durchaus mit größeren Mengen operieren. Da es in diesem Fall primär um die Erhaltung eines mumifizierten Menschen geht, konzentrieren wir uns auf das Letztere.
Ziel der Bemühungen bei der Konservierung ist es, den Körper – insbesondere die äußere Erscheinung – möglichst lange unversehrt zu erhalten. Die Frage ist dann eigentlich: Welche Prozesse führen dazu, dass ein toter Organismus „zerfällt“, also seine biologische Integrität verliert? Da es hier sehr schnell sehr unappetitlich werden kann, bewegen wir uns lieber im Feld neutraler Definitionen und rollen das Ganze dann von hinten auf. Der Zerfall eines Organismus kann ganz grob in zwei Kategorien eingeteilt werden: Zerfall durch Verwesung und/oder Zerfall durch Fäulnis. Die aeroben Zersetzungsvorgänge, also solche, die in der Gegenwart von Sauerstoff vonstattengehen, bezeichnet man als Verwesung. Anaerobe, d.h. unter Sauerstoffmangel oder –abschluss laufende Prozesse als Fäulnis. Zersetzung jeglicher Art bedeutet in diesem Zusammenhang das Aufspalten großer Moleküle in immer kleinere. Angetrieben wird die Zersetzung durch Enzyme, die von den immer anwesenden Bakterien und Pilzen abgegeben werden. Die enzymatische Zersetzung verläuft spontan und freiwillig, d.h. unter Energieabgabe. Auch die im Körper des verstorbenen Organismus befindlichen und weiterhin aktiven Enzyme (sogenannte supravitale oder überlebende Enzyme) können die Zersetzung vorantreiben. Mit diesen Erkenntnissen haben wir auch den Schlüssel zur Konservierung gefunden: Bakterien und Pilze müssen abgetötet werden. Die großen, unzersetzten organischen Moleküle des toten Organismus, wie Eiweiße, Proteine usw. sollen vor dem Angriff durch supravitale Enzyme geschützt werden.
Quecksilber und Arsen sind hier nur sehr beschränkt wirksam, denn sie müssen ja im Grunde den ganzen verstorbenen Organismus durchdringen um dann ihre Toxizität zu entfalten. Und diese ist gegenüber den genannten Protagonisten, vor allem den Enzymen, nur sehr eingeschränkt gegeben. Eine über bzw. in den verstorbenen Organismus eingeführte Formalinlösung hingegen wirkt nahezu überall und unselektiv. Das liegt vor allem daran, dass Formaldehyd ein kleines Molekül ist, das in nahezu alle Bereiche des Organismus vordringen kann und mit seiner ausgeprägten molekularen Funktionalität eben auch viele molekulare Angriffspunkte findet. Mit anderen Worten: Auf der einen Seite wirkt Formaldehyd toxisch gegenüber Bakterien und Pilzen, auf der anderen Seite modifiziert er molekulare Strukturen in allen Organen bzw. im ganzen Körper so, dass ein enzymatischer Angriff kaum oder gar nicht mehr möglich ist. Die makroskopische Integrität der Gewebe bleibt dabei aber erhalten. In diesem Zusammenhang spricht man auch von „Denaturierung“, die von einer makroskopischen beobachtbaren „Härtung“ des behandelten verstorbenen Organismus begleitet ist.

Formaldehyd kommt in flüssiger und gasförmiger Form vor und gilt als wichtiger industrieller Rohstoff im Lebensmittel- und Arzneibereich mit einer Jahresproduktion von 21 Mio. Tonnen. Wozu benutzt man Formaldehyd heute?

Benter: Formaldehyd ist eine unverzichtbare „Grundchemikalie“. Es werden weltweit tatsächlich über 40 Mio. Tonnen Formaldehyd produziert, etwa die Hälfte davon in China. Die technische Herstellung selbst erfolgt hauptsächlich durch katalytische Oxidation von Methanol. Als Katalysatoren kommen Silbermetall (Ag) oder Metalloxide (häufig Eisenoxid, Fe2O3, dem Molybdän und/oder Vanadium zugesetzt ist) zum Einsatz, jeweils mit unterschiedlichen Syntheseprodukten.
Dem Chemielehrbuch kann man entnehmen, dass Formaldehyd einer der wichtigsten organischen Grundstoffe in der chemischen Industrie ist. Er dient als Ausgangsstoff für zahlreiche chemische Verbindungen. Der größte Marktanteil liegt im Bereich der Harnstoff-Formaldehyd-Harze, der Phenoplaste, der Polyoximethylene und einer Reihe von chemischen Zwischenprodukten, wie etwa Pentaerythrit. Pentaerythrit wird ebenfalls zur Herstellung von Harzen sowie Weichmachern und Emulgatoren verwendet und – wie sollte es anders sein – zur Herstellung von Sprengstoffen. Weiterhin findet Formaldehyd Anwendung bei der Herstellung diverser Farbstoffe, Arzneistoffe und in der Textilveredelung.

Trotzdem gilt Formaldehyd als krebserregend. Welche gesundheitlichen Schäden gehen von diesem Stoff aus?

Benter: Formaldehyd ist gesundheitsschädlich, oder prägnanter formuliert, sehr giftig. Daher findet man auch Gefahrenhinweise auf den Behältern, in denen Formaldehyd gelagert wird. Eine Aussage, die auch heute noch volle Gültigkeit hat und von Philippus Aureolus Theophrastus Bombast von Hohenheim, genannt Paracelsus, stammt lautet: „Alle Ding' sind Gift und nichts ohn' Gift; allein die Dosis macht, das ein Ding' kein Gift ist“.
Und so gibt es eine ganze Reihe von zwingend vorgeschriebenen Regeln und Maßnahmen im Umgang mit Formaldehyd. Die maximale Arbeitsplatzkonzentration (MAK-Wert) etwa liegt seit 2011 bei 0.3 ppmV im 8-Stundenmittel. In einem Raum von 30 m³ Volumen, das entspricht einem Zimmer mit 2.5 m Deckenhöhe und 4 x 3 m² Grundfläche, darf sich demnach im 8-Stundenmittel nur maximal 10 cm³ gasförmiger Formaldehyd vollständig verteilt befinden, was einem halben Schnapsglas Gas entspricht. Den MAK Wert erreicht man temporär übrigens auch spielend mit dem Genuss von 3 Zigaretten in diesem Raum. Vor allem die in 2015 durch die EU rechtsverbindliche Einstufung von Formaldehyd in die Kategorie „Wahrscheinlich karzinogen beim Menschen“ schreibt vor, dass die Belastung unabhängig von Grenzwerten immer so gering wie möglich zu halten ist.

Formaldehyd befindet sich auch in der Atmosphäre. Ihr Team hat dazu sogar Messungen vorgenommen. Was können Sie mit diesen Messungen herausfinden?

Benter: Hier muss man zwischen Messungen in der Außenluft und im Innenraum unterscheiden. Innenraumluftmessungen liefern im Ergebnis eine Bestandsaufnahme der Luftqualität. Darüber hinaus können solche Messungen dazu dienen, offensichtliche oder verborgene Quellen von Formaldehydemissionen in Innenräumen aufzuspüren. Trotz ständiger Verbesserungen gibt es laut Umweltbundesamt immer noch eine Vielzahl von Produkten, die Formaldehyd enthalten und in die Raumluft abgeben können. Hier sind Holzwerkstoffe, Bodenbeläge, Möbel sowie bestimmte Dämmstoffe weiterhin als Hauptquellen zu nennen; Formaldehyd kann aber auch in Desinfektionsmitteln, Kosmetikartikeln und Textilien enthalten sein. In die Raumluft abgegebener Formaldehyd wird in der Gasphase kaum abgebaut und kann dadurch akkumulieren. Herabgesenkt werden kann die Formaldehydkonzentration lediglich durch Deposition auf Wänden – und natürlich besonders effektiv durch regelmäßiges Lüften. Ein Hauptgrund für die immer noch breitgefächerte Verwendung liegt auf der Hand: Was tote Organismen vor dem Zerfall bewahren kann, kann sicherlich auch sehr wirksam als Konservierungsmittel für andere „Dinge“ dienen; und das zu einem sehr günstigen Preis.
Ganz anders hingegen ist die Situation in der Außenluft, vor allem in der Gegenwart von Sonnenlicht. Die atmosphärische Lebensdauer (eine Art mittlerer Verweildauer eines Moleküls, bevor es aus der Atmosphäre „entfernt“ wird) von Formaldehyd beträgt in diesem Fall nur maximal einige Stunden. Viel entscheidender aber ist die Entfernung durch chemische Reaktion, das heißt durch die Transformation in eine andere Substanz. Im Vergleich zur Ausgangssubstanz hat diese neue Substanz häufig sehr unterschiedliche chemische und physikalische Eigenschaften. Die Energie, die zum Auslösen solcher Prozesse nötig ist, wird in der Regel vom Sonnenlicht geliefert.
Weiterhin ist in diesem Zusammenhang bedeutsam, dass die Atmosphäre ein oxidatives Medium ist. Dieses wird nicht nur durch die Gegenwart von Luftsauerstoff hervorgerufen, sondern insbesondere durch die Anwesenheit von stark oxidierend wirkenden Spurenstoffen, wie etwa Ozon (O3). Die Konzentration dieser Spurenstoffe in der Atmosphäre ist zwar klein, ihre Reaktivität aber umso größer. Das eine bedingt schließlich das andere. Entscheidend ist die Tatsache, dass die reaktiven Spurengase, die auch als Waschmittel der Atmosphäre bezeichnet werden, in Kreisläufen immer wieder nachgebildet werden: Je „schmutziger“ die Atmosphäre, desto höher ihre Konzentration, weil die Kreisläufe immer schneller „drehen“. Angesichts der hohen Anzahl an Sonnenstunden am Tag verwundert es daher also gar nicht, dass im Sommer die Ozon-konzentrationen in die Höhe schnellen – diese sind also letztendlich ein Indikator für die erhöhte Waschaktivität der Atmosphäre. Und so erfährt Formaldehyd das gleiche Schicksal in der Atmosphäre, wie viele andere Stoffe, die dort eingebracht werden: Er wird oxidiert.
Die unterschiedlichen Zeitskalen, auf denen diese Reaktionen ablaufen, sind von großer Bedeutung für das Verständnis der Chemie der Atmosphäre. Konzentrationsmessungen etwa von Formaldehyd (und vielen andern Substanzen!) geben daher eine Momentaufnahme über den derzeitigen Zustand und lassen Rückschlüsse und Projektionen zu. Neben diesen Messungen „im Feld“ gehören dazu umfangreiche Laborexperimente sowie umfangreiche Modellierungen, um so ein immer besseres Verständnis für die Chemie der Atmosphäre zu gewinnen.

Uwe Blass (Gespräch vom 11.11.2020)

Prof. Dr. Thorsten Benter studierte von 1982 bis 1987 Chemie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und promovierte 1993 ebenda. Seine wissenschaftliche Tätigkeit führte ihn 1997 für vier Jahre an die University of California, Irvine. An der Bergischen Universität leitet er seit 2001 die Physikalische und Theoretische Chemie und vertritt sie in Forschung und Lehre.

 

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