"Die Göttliche" des Tennissports
Torsten Kleine / Arbeitsgruppe "Integrative Theorie und Praxis des Sports"
Foto: privat

„Die Göttliche“ des Tennissports

Die Weltklassetennisspielerin Suzanne Lenglen war der erste Star des Sports
Ein Jahr100Wissen-Interview mit Torsten Kleine, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Sportwissenschaft


Die französische Tennisspielerin Suzanne Rachel Flore Lenglen revolutionierte das Damentennis und galt in den 20er Jahren als weiblicher Weltstar des Sports. Was war das Besondere an dieser Ausnahmeathletin?

Kleine: Suzanne Lenglen hat mit ihren Erfolgen als Sportlerin für ganz besondere Momente gesorgt und mit ihrer Leistung überzeugt. Sie hat von 1919 bis 1926 auch bei den größten Turnieren nur ein einziges Mal verloren, was in der Tennisgeschichte bislang einmalig geblieben ist. Zudem hat sie den Spielstil revolutioniert, hat z.B. das Balletttraining, was sie bei ihrem Vater als Kind absolvierte, auf den Platz gebracht und mit einer bis dahin ungekannten Leichtigkeit gespielt. Es gibt ein sehr passendes Zitat ihrer Doppelpartnerin Elizabeth Ryan: „Sie konnte jeden Schlag und hatte das Genie zu wissen, wie und wann sie diesen einzusetzen hatte.“ Und es waren ihre Art und ihr Auftreten auf und neben dem Platz, die für die 1920er Jahre neu und besonders waren. Die Welt war im Umbruch, der Erste Weltkrieg war vorbei, Frauenrechte wurden in der Gesellschaft immer wichtiger. Sie war die erste Spielerin, die mit Kleidern und Röcken spielte, die über dem Knie endeten, etwas, was in der damaligen Zeit ein Novum war. Sie hat zum Teil mit ärmellosen Oberteilen gespielt. Das waren Dinge, die von einer konservativen, männerdominierten Gesellschaft im Sport zum Teil als skandalös erachtet wurden. Aber Sie wurde eben auch bewundert dafür, dass sie sich nicht um damalige Konventionen scherte. Lenglen ist tatsächlich die erste Sportheldin überhaupt. Zwar gab es zeitgleich Sportler wie Babe Ruth, der Baseballspieler aus den USA oder der Finne Paavo Nurmi, der als Langstreckenläufer mit neun Goldmedaillen bei den olympischen Spielen weltbekannt wurde, aber Lenglen war eigentlich der erste Star des Sports. Das hat auch mit der Entwicklung des Sports zu tun. Es gab immer mehr Publikum, es wurde nun auch auf Frauensport gewettet und es hat auch mit der Entwicklung der Medien zu tun. Zeitungen, Fotos, Radio wurden zu Massenmedien und so konnte in vielen Teilen der Welt bekannt werden, dass jemand sportlichen Erfolg hatte. Und den hatte sie: ihr erster Sieg in Wimbledon 1919 im Finale gegen die 40jährige Dorothy Chambers in drei spannenden Sätzen war eine Wachablösung. Sie hat dort sechs Mal das Einzel gewonnen und dreimal das Triple aus Einzel, Doppel und Mixed. Zunächst waren dort die Sieger*innen des Vorjahres im folgenden Finale gesetzt. Das wurde 1922 geändert und so sind ihre späteren Erfolge noch ein Stück höher anzusiedeln, etwa 1925 als sie im Einzel bei ihren sieben Siegen ganze fünf Spiele verlor.

Schon Jahre vor der Schauspielerin Greta Garbo wurde sie als die „Göttliche“ bezeichnet, was auch an ihrem teilweise skandalösen Auftreten lag. Was schockierte die damalige Gesellschaft?

Kleine: In der Tat hat sie mit ihrem Outfit für Aufsehen gesorgt. Neben der Tenniskleidung ist sie z.B. im Pelzmantel auf den Platz gegangen oder sie hat ihre Haare mit einem Band zusammengebunden, das dann als Lenglen-Bandeau ihren Namen getragen hat. Sie hat die Bobfrisur kultiviert, die auch andere Frauen in der High Society getragen haben. Ihr Kleidungstil neben dem Platz wäre z.T. auch heute nach wie vor up to date. Sie hat sich mit Modeschöpfern umgeben, hatte in ihrer Villa in Nizza berühmte Schauspieler zu Gast und war wahrlich eine prominente Person. Im Ambiente der Cote d’Azur mit wachsendem Tourismus, Festen und Events, war sie jemand, der nicht nur sportliche Leistung gebracht hat, sondern auch außerhalb des Sports im Mittelpunkt der gesellschaftlichen und medialen Aufmerksamkeit stand.

Lenglen gilt bis heute als eine der besten Tennisspielerinnen aller Zeiten, die durch den Sport ihre gesundheitlichen Probleme in den Griff bekam. Welche Probleme waren das?

Kleine: Die Chronistenwelt schreibt, dass Lenglen in ihrer Kindheit mit Asthma und Keuchhusten zu kämpfen hatte. Es war die Überlegung des Vaters, sie Sport machen zu lassen. Aber diese Probleme hatte sie auch während ihrer Karriere immer wieder. Aus meiner Einschätzung der Quellen, hat sie dieses Problem nicht in den Griff bekommen. Bei dieser bereits erwähnten einzigen Niederlage in einem Spiel bei den US Open, wo sie per Schiff hingereist war und erkältet und angeschlagen ankam, musste sie nach dem ersten Satz aufgeben, weil sie Hustenanfälle hatte. Natürlich weiß man nicht, was gewesen wäre, wenn sie keinen Sport gemacht hätte. Sie ist ja auch schon sehr früh mit 39 Jahren an einer perniziösen Anämie gestorben.

Nach dem Ersten Weltkrieg gewann sie in Wimbledon 1919 gegen die siebenmalige Gewinnerin Dorothea Douglass Chambers, wobei sie sich –für heute unvorstellbar- bei den Seitenwechseln mit Brandy erfrischte. Lenglen war die erste Frau, die ins Profilager wechselte und für die damalige Zeit unglaubliche Summen einstrich. Was geschah nach ihrer Profikarriere?

Kleine: Das mit dem Brandy ist heute kaum vorstellbar. Aber dazu gibt es auch unterschiedliche Dokumentationen. Sie hat wohl häufiger eine Flasche mit auf dem Platz gehabt, aber es gab ja nicht die Seitenwechsel, die wir heute kennen, also mit Pause und Hinsetzen. Es gab wohl Situationen, in denen ihr der Vater in den Satzpausen Zuckerwürfel gegeben hat, die mit Cognac oder Brandy getränkt gewesen sein sollen. Ob sie aber wirklich Alkohol während des Spiels getrunken hat, darüber gibt es unterschiedliche Darlegungen. Das ist vermutlich auch ein Bild, was man bei einer so populären Person etwas aufgebauscht hat. Belegt ist der Wechsel ins Profilager 1926 und da hat sie für Frauen etwas Revolutionäres gemacht. Es gab Profis im Boxen und Reitsport, alles Männer. Sie ist in die USA gegangen, hat eine Tournee mit 38 Matches erfolgreich gespielt, dafür 75.000 Dollar bekommen und im New Yorker Madison Square Garden vor 13.000 Zuschauern gespielt – eine Situation wie heute. Sie war so populär, dass auch in den USA viele Menschen kamen, um sie zu sehen. Im klassischen Amateur-Sport wurde sie dafür geächtet. 1932 besuchte sie mit der Tenniskollegin Dorothy Chambers Wimbledon und wurde von den Verantwortlichen als Gast auf hintere Plätze verwiesen, weil sie Profi geworden war und Verrat an den Idealen des Sports begangen hatte. Nach ihrem sportlichen Leben hat sie als Modeverkäuferin gearbeitet, eine Tennisschule gegründet und mit Kindern gearbeitet. Sie hat ein relativ normales Leben geführt.

Welche Bedeutung hat Lenglen für den Frauensport?

Kleine: Frankreich führte erst 1944 die allgemeinen Frauenrechte ein. Daran erkennt man die nicht gleichberechtigte und schwierige Situation der Frauen in der damaligen Zeit, erst recht im Sport. Lenglen hat mit ihrer Person, ihrem Wesen, ganz viele Akzente gesetzt, die bis heute nachwirken. Es kommen dazu tennisspezifische Elemente: Tennis war 1900 die erste Sportart, in der Frauen bei den Olympischen Spielen antreten durften. In den 1930er Jahren traten auch andere Tennisspielerinnen in Kleidung an, die das Knie nicht mehr bedeckte. Mit ihrem Wechsel ins Profilager war Lenglen der Zeit weit voraus. Erst 1968 wurden die offene Profitour der Männer und 1973 die der Frauen gegründet. Heute sind viele Tennisstadien nach berühmten Spieler*innen benannt – meist Männer. Der erste und bis heute größte Platz, der bei den Grand Slam Turnieren nach einer Frau benannt wurde, steht in Paris und heißt Court Suzanne Lenglen. Sie hat sich nicht um Konventionen geschert, hat für Frauen als ein Ideal gewirkt und war eine Pionierin für den Frauensport und die Frauenrechte. Das fasziniert bis heute. Dieser Begriff „Die Göttliche“ ist etwas, mit dem sie immer identifiziert wird. Es gibt eigentlich im Bereich des Sports niemanden, die man später auch als die Göttliche bezeichnet hat. Suzanne Lenglen ist die Göttliche.

Uwe Blass (Gespräch vom 09.06.2020)

Torsten Kleine ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Sportwissenschaft (Arbeitsgruppe "Integrative Theorie und Praxis des Sports") an der Bergischen Universität Wuppertal.

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