Prof. Erica von Moeller / Design Audiovisueller Medien
Foto: UniService Transfer

Als der phantastische Moment im Kopf des Zuschauers entstand…

Vor 100 Jahren wird der erste deutsche Psychothriller gedreht
Professor Erica von Moeller über den Film „Das Cabinet des Dr. Caligari“


Der Film „Das Cabinet des Dr. Caligari“ wurde im Oktober 1919 in nur knapp einer Woche gedreht und gilt als ein internationaler Meilenstein des deutschen Kinos. Er ist der erste Psychothriller, ein expressionistisches Meisterwerk und der wohl einflussreichste deutsche Stummfilm aller Zeiten. Was macht „Das Cabinet des Dr. Caligari“ so einzigartig?

Von Moeller: Ja, der Film „Das Cabinet des Dr. Caligari“ ist ein ästhetisches Meisterwerk und zählt sicherlich zu den einflussreichsten Filmen des Weimarer Kinos. Die Bildgestaltung ist großartig, durch die besondere Abstimmung zwischen dem Szenenbild und der Inszenierung auf der einen Seite und den besonderen Einstellungsperspektiven auf der anderen. Es gelingt dem Regisseur Robert Wiene die Strömungen der Zeit – den Expressionismus - in ein filmisches Gesamtkunstwerk zu überführen. Es ist eine reine Studioproduktion und dadurch bestehen viel mehr Möglichkeiten, genau die Bedingungen am Set zu schaffen, die man später im Bild sehen möchte. Es ist ein Film über eine Innenschau. Der Film beginnt in einer Nervenheilanstalt und mit dieser Rahmenhandlung weiß der Zuschauer gleich, dass es kein realistischer Film ist, sondern eine subjektive Weltsicht. In diesem Sinne führt der Regisseur die filmspezifischen Mittel herausragend synergetisch zusammen. Wenn man sich die Bildkomposition anschaut, stimmt einfach alles. Die Inszenierung, die Choreographie der Schauspieler, die Art, wie die Szenerie aufgebaut ist, die Ausstattung, das Kostüm. Damit wird jedes Bild ein eigenes kleines Kunstwerk. Selbst heute noch empfinden wir diese Bilder auf verstörende Weise poetisch und unvergleichlich ausdrucksstark. Auch wenn der Film ästhetisch schnell Nachahmer gefunden hat, zu nennen wäre hier Friedrich Wilhelm Murnaus „Nosferatu“ (1921), Fritz Langs „Dr. Mabuse“, der „Spieler“ (1922) und „Metropolis“ (1926), so ist doch seine Bildsprache, seine kühnen Einstellungen und seine artifizielle Lichtgestaltung in Verbindung mit der Inszenierung einzigartig und legt den Grundstein für den künstlerischen Aufschwung der deutschen Filmindustrie in den 20er Jahren.
 

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Die beiden jungen Drehbuchautoren Carl Mayer und Hans Janowitz schreiben ihre traumatischen Erfahrungen in den Schützengräben nieder und verarbeiten sie in einer Geschichte über Angst, Identitätsverlust und den Missbrauch von Macht. Wieso konnte dieser filmische Albtraum so kurz nach dem ersten Weltkrieg diesen enormen Erfolg verbuchen?


Von Moeller: Um seine Bedeutung einzuordnen, muss man verstehen, in welcher Zeit Wienes Film entstanden ist. Der erste Weltkrieg war kaum vorbei, die Wunden und die gesellschaftliche Rückständigkeit noch völlig zu spüren, gleichzeitig bei aller Tragik beschleunigt der erste Weltkrieg aber auch den Weg in die Moderne. Schon ab 1906 zeigt der Kubismus eine neue Konstruktion der Wirklichkeit. Die Avantgarden beeinflussen sich als internationale Bewegung untereinander. Die maßgeblichen Akteure des Expressionismus, Künstlergruppen wie „Die Brücke“ und „Der Blauer Reiter“, hatten ein reiches Formenrepertoire entwickelt und hatten ihre Hochphase eigentlich schon hinter sich. Dabei darf man nicht vergessen, dass der Expressionismus sich als Protest gegen die damals bestehende Ordnung und somit vielfach gegen das Bürgertum richtete. Die expressionistischen Stilmittel des Films sind ganz deutlich ein Rückgriff auf die Formensprache der Malerei und des Theaters. Dieser Entwicklungsschritt lag in der Luft und wurde von vielen Filmschaffenden sehnlichst antizipiert, um das Kino endlich in die Moderne zu überführen. Insofern ist „Das Cabinet des Dr. Caligari“ ein wunderbares Beispiel, zu dem Kurt Tucholsky ausrief: „Endlich ein expressionistischer Film!“
Zu dem enormen Erfolg trug aber auch bei, dass der Produzent Erich Pommer sich für den Film eine ungewöhnliche Marketingstrategie hatte einfallen lassen. Kurz vor dem Start des Films im Kino (Anfang 1920) tauchten plötzlich expressionistisch gestaltete Plakate mit dem geheimnisvollen Ausruf „Du musst Caligari werden!“ in Berlin auf. Die Filmpresse feierte den Film als „Einzug der Kunst in den Film“. Aber auch im Ausland wiederholte sich der Erfolg und bis heute gilt er als Schlüsselfilm jener Zeit.

Der Film gilt als Paradebeispiel des Expressionismus.
War das Medium Film prädestiniert für die Darstellung dieser Kunstrichtung?

Von Moeller: Ja, im Grunde nutzt der Regisseur Robert Wiene auf geniale Weise das Medium Film. Er löst sich von der realistischen Darstellung und findet in der expressionistischen Ausdrucksform eine ganz eigene, wahrhaftige Gestaltung eines traumhaften Zustandes. Der Film vermag phantastische Momente viel besser einzufangen, weil er im Studio seine eigene Welt schafft. Alle ästhetischen Qualitäten, die das Szenenbild hergibt, werden eingebaut und schaffen einen eigenen Kosmos. Dabei findet die Wahl der Mittel bei „Caligari“ in der Geschichte immer eine formale Berechtigung: Sie wird eingeführt als Innenansicht einer Figur und gleichzeitig wird der Kernplot des Films, der Psychothriller um Dr. Caligari, zu einer subjektiven Wahnerzählung. Neben der Gestaltung des Szenenbildes, dass immer mit schrägen Perspektiven und gemalten Schatten arbeitet, benutzt der Film darüber hinaus aber auch filmische Stilmittel wie Irisblenden und Überblendungen, um den expressionistischen Charakter zu unterstreichen. Das ist eine ganz ungewöhnliche Geschichte an sich und auch für die Zeit: Die Instrumentalisierung eines Mediums personalisiert in einer Figur. Insofern gehen Ästhetik und Erzählung hier so besonders gut zusammen.

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Inwiefern wurde der phantastische Film durch „Das Cabinet des Dr. Caligari“ beeinflusst?


Von Moeller: Man kann die Spuren über die Jahrzehnte immer wieder finden. Besonders der Film Noir ist absolut beeinflusst von der Art der Bildgestaltung. Die Art, wie eine Einstellung komponiert ist und wie das Licht gestaltet ist: hartes Licht und harter Schatten wechseln sich ab, sehr viele düstere, dunkle Szenen finden wir in der Cadrage (Auswahl des Bildausschnitts Anm.d.R.) das sind ganz typische Elemente des späteren Film Noir. Ebenso finden wir Spuren in der Art der Inszenierung, in Maske, Kostüm und Bildgestaltung bis in den Horrorfilm der Jetztzeit. „Die Nonne“ ( US-amerikanischer Horrorfilm von Regisseur Corin Hardy aus dem Jahr 2018) ist so ein modernes Beispiel. Der Regisseur traut sich da über große Bildanteile bis ins tiefe Schwarz zu gehen, um dann den Horror in den Köpfen der Zuschauer entstehen zu lassen. Das ist bei Caligari auch der Fall, er lässt Figuren richtig ins Schwarz abtauchen, um das Phantastische zu steigern und emotional spürbar werden zu lassen.

Als die Nazis an die Macht kamen, verboten sie "Das Cabinet des Dr. Caligari" und stuften ihn als "Entartete Kunst" ein. Wie sehen ihn die Filmfans heute, 100 Jahre später, aufwändig restauriert durch die Murnau Stiftung und viragiert (farblich eingetönt) in den ursprünglichen Farben?

Von Moeller: Der Film erlebt jetzt wieder eine ganz besondere Aufmerksamkeit. Die restaurierte Fassung ist besonders gelungen, auch dadurch, dass sie das Kameranegativ aufgefunden haben. Das ist das Negativ, was in der Kamera belichtet wurde, also nicht die Kopie. Oft werden solche restaurierten Fassungen von Kopien hergestellt. Aber diese Kopien sind wahrscheinlich irgendwann auch durch einen Projektor gelaufen und haben dann Farbveränderungen und Kratzer bekommen. Bei Caligari war es das ursprüngliche Kameranegativ. Und darum kann man auch davon ausgehen, dass der Filmlook sehr nah an der Vorstellung des Kameramanns und des Regisseurs Robert Wiene war. Das ist ein Glücksfall. Die Viragierung gibt den Bildern noch einmal einen ganz besonderen Reiz, eine Aura, etwas Poetisches. Es ist nicht nur der harte Schwarz-Weiß-Kontrast, sondern es ist diese gelblich-beige Farbe. Dieses Goldene in der Schwärze bekommt so bildgestalterisch noch einmal eine ganz andere Poetik. An dieser Stelle ist der Film auch wieder sehr modern, weil wir es jetzt auch immer wieder erleben, dass es Schwarz-Weiß-Bemühungen gibt. „The Artist“ (Spielfilm des französischen Regisseurs Michel Hazanavicius aus dem Jahr 2011) z. B. ist ein Schwarz-Weiß-Film der heutigen Zeit und nutzt ein Stilmittel, das wieder neu entdeckt wird. Auch in der Fotographie gibt es wieder einen großen Stilwillen hin zur Schwarz-Weiß- Fotographie.

Uwe Blass (Gespräch vom 09.10.2019)


Die Regisseurin und Autorin Erica von Moeller studierte sowohl Freie Bildende Kunst in Mainz als auch Kommunikationswissenschaften in Frankfurt bevor sie an der Kunsthochschule für Medien in Köln im Bereich Film diplomierte. Sie realisiert seit 2001 Filme in unterschiedlichen Genres und Formaten. Als Medienkünstlerin entwickelt sie Ausstellungsprojekte an der Schnittstelle zwischen Bewegtbild, Raum und Klang. Nach vielfältigen Lehraufträgen in Köln, Berlin und Trier lehrt sie seit Sommer 2011 an der Bergischen Universität Wuppertal als Professorin für Design audiovisueller Medien.



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