100. Todestag des Komponisten Erik Satie
Christoph Spengler / Leiter des Chors und Orchesters der Bergischen Universität
Foto: Sergej Lepke

 „Ich bin sehr jung auf eine sehr alte Welt gekommen“

Christoph Spengler, Leiter von Chor und Orchester der Bergischen Universität über den 100. Todestag des Komponisten Erik Satie

Erik Satie starb am 1. Juli 1925 in Paris. Bei seinen Werken spricht man oft von einer über-emphasierten Einfach- und Klarheit. Was bedeutet das?

Christoph Spengler: Die Frage impliziert, die „neue Einfachheit“ der Musik Saties als Schwäche zu verstehen. Ich sehe darin eher ein künstlerisches Statement. Aus meiner Sicht steckte die Musik der späten Romantik in ihrer Opulenz, den immer noch größer werdenden Besetzungen (man denke an die „Symphonie der Tausend“ Gustav Mahlers) und ausladenden Werklängen in einer Sackgasse. Wie sollte es weiter gehen - noch größere, noch ausladendere, noch emotionalere Werke? Das ist nur schwer vorstellbar, und das war wohl der Antrieb für Satie, in seiner Musik radikal zu reduzieren - einfache Harmonien, klare Melodien, wenig emotionale Entwicklung, ein eher spielerischer Stil - stets mit einem Augenzwinkern. 
Satie komponiert oft so, dass man meint, das Stück ginge gleich weiter oder entwickle sich – aber dann bleibt es stehen. Oder kehrt wieder zum Anfang zurück. In gewisser Weise nimmt er damit vieles vorweg, was die Minimal Music des 20. Jahrhunderts später zum Prinzip machen wird.

Mit 13 Jahren meldete ihn seine Stiefmutter am Pariser Konservatorium an, dass er jedoch zwei Jahre später aus „mangelnder Motivation“ wieder verließ. Erst mit 40 Jahren nahm er sein Musikstudium wieder auf. Da hatte er aber schon diverse Musikstücke komponiert, oder?

Christoph Spengler: Das ist richtig. Und es waren nicht irgendwelche Jugendwerke, sondern Kompositionen, die zu seinen berühmtesten zählen, die man bis heute als allererstes mit seinem Namen in Verbindung bringt. Satie war Anfang 20, als er die drei Gymnopédies schrieb, und auch die beliebten Gnossiennes stammen aus dieser frühen Schaffensphase.

Ich glaube nicht, dass sein frühes Studium großen Einfluss auf diese ersten Werke hatte und sehe ihn eher als eine Art kompositorischen Autodidakten, der sich vornehmlich dem Instrument widmete, das er schon in seiner Kindheit zu spielen lernte - dem Klavier. Seine Tätigkeit als Pianist in Cafés am Montmartre wird sicher auch Einfluss auf die Klangwelt dieser Werke genommen haben. 

Bei seinem späten, zweiten Studium - da war er immerhin schon 40 - galt er nicht gerade als übermotiviert. Ihm wird sogar nachgesagt, er wollte einfach eine Ausbildung vorweisen können, um als Komponist insbesondere von der Kunstwelt ernster genommen zu werden, denn gerade sein stetiger Hang, die populäre und sogenannte „ernste“ Musik zu verbinden, wurde ihm - nicht zuletzt von seinem Freund Claude Debussy, zum Vorwurf gemacht.

Zu seinen bekanntesten Werken gehören die drei Gymnopédies, Klavierstücke, die um 1888 entstanden. Was macht sie so besonders?

Christoph Spengler: Die Gymnopédies sind drei kurze Klavierstücke, sehr langsam, fast schwebend, ohne eine Spur virtuoser Brillanz. Es ist eine fast statische Musik, die eben keine Entwicklung im klassischen Sinne sucht. Der Klang der drei Stücke scheint über den Tasten zu schweben, getragen von schlichten, aber doch überraschend farbigen Harmonien. Diese Musik, die „einfach da ist“, lässt Raum für Gedanken, für Atmosphäre und nimmt den Hörer bzw. die Hörerin bewusst nicht ein. Es entsteht ein Gefühl von Zeitlosigkeit, einer „nicht traurigen Melancholie“ - und ist so eben doch sehr ausdrucksstark. Ich halte diese Stücke für einzigartig, jenseits klassischer Schubladen, und gerade das macht sie so faszinierend.

Sie sind ein wunderbares Beispiel von Saties (späterer) Idee einer „Hintergrundmusik“ oder wie er es nannte "Musique d’ameublement“ - das heißt übersetzt „Möbelmusik“. Musik, so dachte er, soll einfach im Raum sein, wie ein Möbelstück. Damit grenzte er sich vom klassischen Konzertverständnis einer Musik ab, der man „zuzuhören“ habe. Das war im damaligen Kulturverständnis ein radikaler Gedanke - eine Musik zu schreiben, die „überhört“ werden sollte und eher eine Atmosphäre im Hintergrund schafft. So hat er zum Beispiel musikalische Fragmente als Begleitung zu einer Kunstausstellung geschrieben mit dem Ziel, dass man sie kaum bemerkte - was allerdings nicht der Fall war. 

Mit dieser Haltung nimmt Satie vieles vorweg, was für uns heute ganz selbstverständlich geworden ist. Wir sind einen erheblichen Teil unsres Alltags von Musik umgeben, die wir kaum wahrnehmen, eben, weil sie „einfach da“ ist. Kein Geschäft, in dem nicht durch die Lautsprecher Musik plätschert, kaum ein Autoradio, das nicht die Gespräche der Fahrenden untermalt. 

Was nicht zu unterschätzen ist: Musik schafft, auch wenn sie nicht bewusst wahrgenommen wird, immens stark Atmosphäre. Ein gutes Beispiel dafür ist die Filmmusik, die die Emotionalität der Bilder, die Atmosphäre der Orte, die Dramatik eines Films essenziell verstärkt. Das wird besonders deutlich, wenn man sich Szenen aus Filmen einmal ohne Musik anschaut.

Erik Satie (1919)
Foto: gemeinfrei


Er war ein skurriler Eigenbrötler, ein Minimalist zwischen allen Stühlen und bezeichnete sich selbst als Phonometrographen, der sich in den 1890er-Jahren als Pianist im Chat noir und anderen Cabarets des Montmartre durchschlug und über sich selbst sagte: „Ich bin sehr jung auf eine sehr alte Welt gekommen.“ Was meinte er damit?

Christoph Spengler: Dieser Satz sagt viel über Saties Selbstbild – und vielleicht auch über seinen Schmerz. Ich glaube, er empfand sich als jemand, der seiner Zeit voraus war, aber sich gleichzeitig von der Welt, in die er hineingeboren wurde, entfremdet fühlte. Die musikalische und gesellschaftliche Konvention des späten 19. Jahrhunderts war ihm fremd: zu bürgerlich, zu ernsthaft, zu selbstzufrieden. Satie hingegen war verspielt, ironisch, radikal – und wollte nicht dazugehören.
Seine Selbstbezeichnung als Phonometrograph, also als „Klangmesser“, ist typisch für diesen Außenseitergeist. Statt sich als Komponist mit großem Genie zu stilisieren, wie viele seiner Zeitgenossen, wählt er einen technisch-nüchternen Begriff – fast schon eine Karikatur auf das, was man damals unter Künstlersein verstand. Das zeigt sich bis hin zu seinem Kleidungsstil, er trug jeden Tag den gleichen Cord-Anzug, von dem er sich sieben Exemplare gekauft hatte.
Seine Tätigkeit als Café-Pianist war ganz sicher prägend für seinen Kompositionsstil und sorgte zugleich dafür, dass er so „geerdet“ war und damit einen ganz anderen Weg einschlug als zum Beispiel die Komponisten der Neuen Wiener Schule wie Schönberg, Berg und Webern, die mit hochkomplexen Klangstrukturen ganz andere musikalische Ideale verfolgten.

Einige Klavierwerke tragen Titel wie „Vertrocknete Embryonen“ (Embryons desséchés) oder „Wahrhaft schlaffe Präludien für einen Hund“ (Véritables Préludes flasques pour un chien). Man sagt, er sei der Wegbereiter des Dadaismus gewesen. Jedenfalls hat er auch mit Schreibmaschine, Nebelhorn und elektrischer Klingel gearbeitet, oder?

Christoph Spengler: Ja – und das mit voller Absicht. Satie hatte einen ausgeprägten Sinn für Absurdes, Ironisches und Spielerisches. Seine Werktitel wirken oft wie kleine Provokationen gegen den Ernst und die Schwere der sogenannten Hochkultur. „Wahrhaft schlaffe Präludien für einen Hund“ – das ist nicht nur ein ulkiger Titel, das ist ein musikalischer Kommentar zur steifen Etikette der Musiktradition.

Sein Bezug zum Dadaismus ist dabei gar nicht weit hergeholt. Wie die Dadaisten liebte er das Spiel mit Sinn und Unsinn, mit Erwartung und Enttäuschung, mit Sprache und Bedeutungsverlust. Man könnte sagen: Satie war Dada, bevor es Dada gab.

Dass er sich auch klanglich ausprobierte – mit Schreibmaschine, Nebelhorn oder elektrischer Klingel –, zeigt seinen Mut zur Grenzüberschreitung. Solche Instrumente tauchen z. B. in dem Theaterstück Parade auf, das er gemeinsam mit Jean Cocteau und Pablo Picasso realisierte. Das war 1917 – mitten im Ersten Weltkrieg. Die Arbeit daran war für ihn übrigens alles andere als einfach, weil er sich schwertat, mit anderen zusammenzuarbeiten.
Satie hat auf spielerische Weise eine Tür aufgestoßen – in eine Musikwelt, in der alles erlaubt sein darf. Und das war, in dieser Zeit, ziemlich radikal.

Große Pianisten lassen von Saties Klavierwerken tunlichst die Finger. Warum?

Christoph Spengler: Dafür gibt es mehrere Gründe. Auf der Hand liegt zunächst der scheinbar banalste davon, dass seine Werke meist technisch nicht besonders schwer zu spielen sind und der Interpret also der Möglichkeit beraubt wird, seine Virtuosität unter Beweis zu stellen. Gleichzeitig, und hier wird es interessant, sind die Stücke in ihrer starken Reduktion und Einfachheit gnadenlos durchsichtig, jeder Anschlag zählt, alles liegt total offen, fernab einer „Umhüllung“ durch großes, begleitendes Orchester oder Wolken der Klangpedalnutzung. Wenn man Saties Musik „so richtig gut“ spielt, klingt sie sehr einfach, und vielleicht ist gerade das die Sorge, dass das Publikum nur dies wahrnimmt, ohne zu verstehen, dass die Kunst gerade darin liegt, es genau so klingen zu lassen. Das ist ein unbequemer Anspruch, dem sich nicht viele stellen wollen.

Santiago Rusiñol: Erik Satie in seinem Zimmer (1891),
Fozo: gemeinfrei

Satie kannte und arbeitete mit der künstlerischen Avantgarde seiner Zeit zusammen, also mit Künstlern wie Claude Debussy, Pablo Picasso, Jean Cocteau oder Maurice Ravel. Fachleute sagen, er sei einer der meist unterschätzten Komponisten des 20. Jahrhunderts gewesen. Würden sie dem zustimmen?

Christoph Spengler: Nun, gerade mit dem großen Claude Debussy, mit dem Satie eine enge Freundschaft verband, hat er sich am Ende dessen Lebens überworfen, weil er Saties Hang, Elemente aus der populären Musik in seine Kompositionen einfließen zu lassen, gar nicht schätzte. Auffällig ist, dass uns im Konzertalltag nur wenig Musik Saties begegnet, und wenn, sind es fast immer nur die Frühwerke wie oben beschrieben. Er war in der Szene eben auch immer ein sperriger Zeitgenosse mit seiner Weigerung, sich zu sehr mit Kontrapunkt und Harmonielehre beschäftigen zu wollen. Gleichzeitig ist er ein Wegbereiter geworden für musikalische Entwicklung, die weit über seine Lebenszeit hinaus gewirkt haben - die Minimal Music, Filmmusik, das Konzept der „Ambient Music“. Satie hat das Rezipieren von Musik an sich in Frage gestellt, er fordert uns dazu auf, auf andere Weise hinzuhören. oder gar „wegzuhören“. 

Satie selbst hat es immer abgelehnt, heroisch verehrt zu werden - kein Drama, keine Tragödie, keine große Geste. Er bevorzugte den schrägen, humorvollen, aber auch poetischen Blick auf das, was Musik eben auch sein kann. Damit war er aus meiner Sicht ein sehr moderner Komponist in seiner Zeit, und ich glaube, ja, man kann schon sagen, dass seine Bedeutung für vieles, was uns heute selbstverständlich geworden ist, unterschätzt wird.

Uwe Blass

Christoph Spengler studierte Kirchenmusik in Düsseldorf. 2007 übernahm er die Leitung des Unichores, 2011 die Leitung des Orchesters. 2016 verlieh ihm das Rektorat die Ehrenmedaille der Bergischen Universität. 2017 wurde er zum Kirchenmusikdirektor durch die Evangelische Kirche im Rheinland ernannt.