Interview zum Abschied
„Eine gute und produktive Zeit“ – Gertrud Oelerich blickt auf ihre Jahre an der Bergischen Universität zurück
Eine prägende Stimme der Sozialpädagogik verabschiedet sich: Gertrud Oelerich geht zum Ende des Jahres in den Ruhestand. // Foto Friederike von Heyden
Was war Ihr bewegendster Moment oder Ihre wichtigste Erfahrung in Ihrer Laufbahn?
Den einen Moment oder die eine Erfahrung kann ich gar nicht benennen, das waren schon einige, etwa das erste Mal als ganz junge Wissenschaftlerin vor gut 70 Studierenden die erste Vorlesung zu halten, das hat mich schon beeindruckt. Oder mich bewegt immer wieder, wenn man mit Kolleg*innen an schwierigen Fragen arbeitet, die Erfahrung kollektiven Denkens machen darf und sich dann nach einiger Zeit der Anstrengung ein Problem löst und die Erkenntnis oder die Antwort da ist. Und die Erfahrung, dass man das eine oder andere gemeinsam bewegen kann, vergisst man auch nicht so schnell.
Worauf sind Sie besonders stolz – etwa in Bezug auf Ihre eigenen Studierenden, Ihren Arbeitsbereich oder Beiträge zur Institution?
Mit ‚Stolz‘ kenne ich mich nicht so gut aus, aber manchmal empfinde ich schon Zufriedenheit, etwa, wenn Studierende sich in den Veranstaltungen intellektuell toll entwickeln, eigenständig zu argumentieren beginnen und mir schließlich mit klugen Argumenten widersprechen. Wenn sich Absolvent*innen von mir beruflich sehr gut platzieren konnten. Wenn eine kleine Studie, die ich zusammen mit einer Mitarbeiterin verfasst habe, heute nach zehn Jahren immer noch als fachliche Grundlage in öffentlichen Diskussionen herangezogen wird oder unsere Forschungsideen plötzlich in mir bis dato völlig unbekannten Diskursen aufgenommen werden. Solche Momente freuen mich schon und machen etwas zufrieden.
Wenn Sie auf Ihr Forschungsfeld blicken: Welche Entwicklungen in der Kinder- und Jugendhilfe haben Sie in den letzten Jahren besonders bewegt oder überrascht?
In der Kinder- und Jugendhilfe steht die Umsetzung der gemeinsamen Zuständigkeit für alle jungen Menschen, also auch junge Menschen mit Beeinträchtigungen, an. Derzeit liegt die Zuständigkeit zumeist noch bei unterschiedlichen Institutionen. Dass dieser Prozess schwierig werden würde, war schon lange klar, dass es sich so lange hinziehen würde, hatte ich nicht erwartet. Ich sehe insgesamt in der Kinder- und Jugendhilfe noch viel Veränderungsnotwendigkeit, aber in den letzten Jahren hat sich der Blick verstärkt auf die Perspektive der jungen Menschen gerichtet, ebenso auf die Prinzipien der Beteiligung der jungen Menschen – das ist eine gute Entwicklung. Hier muss man sicherlich weiter kritisch hinschauen, aber die eigenständige Wahrnehmung der jungen Menschen hat sich in den vergangenen Jahren deutlich positiv zu deren Gunsten entwickelt.
Wo sehen Sie derzeit die größten Herausforderungen und Handlungsbedarfe?
Kinder- und Jugendhilfe kostet Geld, und dort wird auch einiges Geld investiert. Das ist gut so und muss auch anerkannt werden. Schwierig sind aber die aktuellen Sparzwänge, die auch den Jugendhilfebereich treffen. Das ist eine falsche Entscheidung, hier zu kürzen. Ich bin mir sicher, dass dies mittelfristig zu noch höheren Kosten führen wird. Und auch mit Blick auf die Jugendhilfeforschung bleibt die große Herausforderung, die Sichtweise der jungen Menschen und ihrer Familien auf die Angebote der Jugendhilfe mit den Sichtweisen der Fachkräfte bzw. der Institution zusammen zu bringen, ohne dass die Perspektive der Nutzenden in den Hintergrund gerückt wird.
Sie waren mehrere Jahre in Führungs- oder Gestaltungsrollen an der Bergischen Universität tätig – als Prodekanin, Dekanin und zuletzt als Prorektorin. Was hat Sie an dieser Tätigkeit gereizt?
Eigentlich wollte ich nur in Ruhe forschen und lehren. Insofern hat mich daran zunächst nichts gereizt, zumal ich mir diese Aufgaben für mich nicht vorstellen konnte. Ich brauchte gedanklich längere Anläufe und musste schon etwas intensiver gefragt werden. Aber wenn ich mich dann entscheide, zu sagen ‚O.k. ich mache das‘, kommt bei mir sehr schnell der Punkt, die Verantwortung anzunehmen, die Dinge genau verstehen zu wollen, über Zusammenhänge und Details gut informiert zu sein, um auf dieser Grundlage gestalten zu können. Das sind nicht immer nur einfache Aufgaben gewesen – so etwa bin ich 2020 genau mit Beginn der Corona-Pandemie Dekanin geworden. Das ist vom damaligen Rektorat sehr gut gemanagt worden, war aber auf Fakultätsebene dennoch eine tägliche Herausforderung und hat mir schon so manches Kopfzerbrechen bereitet. Insgesamt bin ich aber sehr dankbar dafür, welch großes Vertrauen und zum Teil auch große Unterstützung mir entgegengebracht wurde. Gerade in den letzten Jahren im Rektorat, besonders mit diesen fünf wunderbaren Kolleg*innen, blicke ich für mich auf eine wirklich gute und produktive Zeit zurück.
Denken Sie mit Wehmut oder Vorfreude an Ihren bevorstehenden Ruhestand?
Sowohl als auch: Der tägliche Kontakt mit vielen Menschen in der Universität, die mir jeden Tag so freundlich begegnen, und die spannende Zusammenarbeit mit den Kolleg*innen – nicht zuletzt mit denen im Rektorat – wird mir sicherlich fehlen. Ob das Wehmut ist, weiß ich nicht. Vorfreude auf mehr Zeitsouveränität habe ich allerdings tatsächlich und, da bin ich ehrlich, die eine oder andere nicht besonders freudige Aufgabe oder Sitzung werde ich vermutlich nicht so sehr vermissen.
Gibt es Projekte oder Themen, mit denen Sie auch künftig verbunden bleiben möchten oder die Sie weiterverfolgen wollen?
Ja, die gibt es in der Tat: Zwei Sammelbände, die ich mit Kolleg*innen herausgebe, würde ich jetzt gern sehr zeitnah abschließen wollen. Da war in der Vergangenheit nicht immer so viel Zeit, wie ich es mir gewünscht hätte. Dann habe ich noch viel empirisches Interviewmaterial zur Sozialpädagogischen Nutzerforschung, einem meiner Forschungsschwerpunkte, das mich reizt weiter zu bearbeiten. Ein Buchprojekt würde ich gern zusammen mit einem Kollegen realisieren und dann gibt es auch noch einige laufende Promotionen und Studienabschlüsse, deren Betreuung ich übernommen habe. Und konkrete Ideen für kleinere neue Forschungsprojekte gibt es auch. Ich bin da weiterhin sehr offen und neugierig. Und vielleicht ist meine Mitarbeit, Erfahrung und Expertise auch noch an anderen Stellen von Nutzen.
Worauf freuen Sie sich jenseits von Arbeit und Forschung?
Vor allem freue ich mich auf die Möglichkeit, wenn das Wetter stimmt, einfach mitten in der Woche an einem beliebigen Vormittag spontan mit meinem Mann eine ausgedehnte Wanderung im Bergischen Land machen zu können. Wenige kleinere Reiseprojekte habe ich mir auch vorgenommen. Und mit der Urlaubsplanung nicht mehr so streng an die Semesterzeiten gebunden zu sein, darauf freue ich mich ebenso – denn der Frühsommer ist eine botanisch tolle Zeit in den Bergen, die kenne ich kaum. Das war ja bislang selten möglich. Und einfach mal ausgiebig einen – auch wissenschaftlichen – Text zu Ende zu lesen, ohne unmittelbaren Verwertungsdruck und ohne schlechtes Gewissen, eigentlich etwas anderes machen zu müssen, das stelle ich mir im Moment auch sehr angenehm vor.
Zur Person
Nach ihrem Studium der Diplompädagogik an der Universität Bielefeld arbeitete Gertrud Oelerich als Wissenschaftliche Mitarbeiterin in mehreren Forschungsprojekten zunächst an der Universität Bielefeld und dann mehr als zehn Jahre an der Universität Heidelberg, wo sie auch bei Micha Brumlik promovierte. Es folgten Tätigkeiten als Beraterin, Evaluatorin und wissenschaftliche Begleitung in der Jugendhilfe sowie eine Leitungstätigkeit im Jugendamt Wuppertal. 2009 kam sie an die Bergische Universität Wuppertal, zunächst als Wissenschaftliche Mitarbeiterin, 2011 wurde sie zur Professorin (apl.) für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik ernannt.
In der Hochschulleitung übernahm sie zahlreiche Gestaltungsaufgaben: Von 2016 bis 2020 war sie Prodekanin, anschließend bis 2022 Dekanin der Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften. Im September 2022 übernahm sie das Amt der Prorektorin für Nachhaltige Organisationsentwicklung und Diversität.
Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Kinder- und Jugendhilfe, der sozialpädagogischen Nutzerforschung sowie in empirischen Forschungszugängen.