Die europäische Schlafkrankheit
Dr. Jean-Baptist du Prel / Sicherheitstechnik/Arbeitswissenschaft
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Die europäische Schlafkrankheit:
Das größte Mysterium des 20. Jahrhunderts

Dr. Jean-Baptist du Prel über die rätselhafte Erkrankung Encephalitis lethargica, die sich in den 20er Jahren weltweit ausbreitete

In den 20er Jahren tauchte gleichzeitig zur Spanischen Grippe auch eine geheimnisvolle Schlafkrankheit mit dem Namen Encephalitis lethargica auf. Um welche Krankheit handelt es sich dabei?

Du Prel: Es handelt sich um eine neurologische Erkrankung, die epidemische Ausmaße angenommen hatte. Sie hat sich damals von Frankreich aus über ganz Europa ausgebreitet und dann weiter nach Nordamerika bis in die Sowjetunion und auch nach Indien. Wir sprechen von einer rätselhaften Erkrankung, von der bis heute nicht so ganz geklärt ist, woran es gelegen hat. Diese hat sich durch einen charakteristischen Verlauf dargestellt, so dass sie sich von anderen neurologische Erkrankungen unterscheiden konnte.

Bis 1950 befiel diese Schlafepidemie fast eine Millionen Menschen mit schwerwiegenden Folgen für ihre Gesundheit. Wie äußerte sich die Krankheit?

Du Prel: Klassischerweise, wobei es auch Ausnahmen gibt, hat sie sich in zwei Phasen geäußert. Das eine war eine akute Phase, da gab es - zunächst jedenfalls -  influenzaähnliche Symptome: Fieber, Schüttelfrost, Kopfschmerzen und auch Übelkeit. Zusätzlich hat sich auch eine oft wechselhafte neurologische Symptomatik gezeigt. Eine Lethargie, also ein ausgesprochenes Schlafbedürfnis und auf der anderen Seite gab es auch eine Hirnnervenbeteiligung, womit die Augenmobilität eingeschränkt war. Der Nervus oculomotoris, der dritte Hirnnerv war betroffen, wodurch die Augenbeweglichkeit stark eingeschränkt wurde. Und auch die Beweglichkeit der Gliedmaßen war gehandicapt. Die chronische Phase war gekennzeichnet durch eine parkinsonähnliche Symptomatik, im Unterschied zur Parkinsonerkrankung gab es bei der Enzephalitis lethargica allerdings neben der typischen Bewegungsarmut auch Phasen normaler Beweglichkeit, die durch externe Stimuli ausgelöst werden konnten.

Der Begriff Schlafkrankheit ist eigentlich irreführend. Warum?

Du Prel: Weil es sich nicht um Schlaf im klassischen Sinne handelt, also das, was man sich unter Schlaf vorstellt. Die Menschen waren zum einen sehr schnell erweckbar aus diesem Zustand und auf der anderen Seite haben sie während des Schlafes alles mitbekommen. Das war also kein wirklicher Schlaf.

In Deutschland wurde in den Zwanzigerjahren der Neurologe Felix Stern an der Göttinger Nervenklinik zum führenden Experten für diese Krankheit. Er sammelte wertvolle Daten zum Krankheitsverlauf. Aber seine Forschungen wurden verboten. Warum?

Du Prel: Felix Stern war von 1920 bis 1928 außerordentlicher Professor an der Universität in Göttingen und auch Oberarzt in der dortigen Nervenklinik. Er wechselte dann nach Kassel. Er war jüdischer Abstammung und man entzog ihm damals seine Lehrbefugnis. Er ist dann nach Berlin gezogen, hat dort eine private Ambulanz eröffnet. Er versuchte auch ins Ausland zu kommen, um seine Forschungen weiter zu betreiben, was ihm leider nicht gelungen ist. Er hat sich 1942 das Leben genommen, weil ihm die Deportation durch die Nazis drohte. Eine sehr tragische Geschichte.

Es gibt den Film „Zeit des Erwachens“ mit Robert de Niro und Robin Williams, der auf Erinnerungen des Psychologen Oliver Sacks basiert. Darin geht es um Überlebende der Krankheit, die fast 40 Jahre nicht ansprechbar in der Bewegungslosigkeit verharrt hatten. Wodurch kommen die Patienten -wenigstens kurzzeitig- zurück ins Leben?
 

Du Prel: Die Behandelten haben damals Levodopa, auch bekannt als L-Dopa bekommen, also ein Dopaminderivat, dass schon für die Parkinsonerkrankung eingeführt war. Die Patienten dieser chronischen Phase hatten einen postencephalitischen Parkinsonismus und man dachte, dass vielleicht L-Dopa da auch helfen könnte. Es war dann tatsächlich so, dass L-Dopa die Menschen zunächst aus dieser Lethargie herausgerissen hat, sie quasi wieder einen Normalzustand erreichten. Aber leider war diese Normalisierung nicht von Dauer. Man hat dann versucht die entsprechende Dosis von L-Dopa zu erhöhen, aber auch das war nicht von Erfolg gekrönt und die Patienten sind dann wieder in die Lethargie zurückgefallen.

Die Erkrankung ist heute verschwunden. An den Ursachen rätseln die Wissenschaftler nach wie vor, oder?

Du Prel: Manche sagen auch, dass es das größte Mysterium des 20. Jahrhunderts war. Zunächst einmal ist die Koinzidenz mit der Spanischen Grippe interessant, daher dachte man anfangs auch, es könnte eine besondere Verlaufsform der Spanischen Grippe sein. Bei genauerer Betrachtung war die epidemiologische Beweisführung jedoch nicht stichhaltig, weil es die Encephalitis lethargica schon vor der Spanischen Grippe gab. Sie wurde bereits 1915 in Frankreich beschrieben, und auch die räumliche Ausbreitung verlief genau andersherum: Die Spanische Grippe kam von Nordamerika nach Europa und die Encephalitis lethargica von Europa nach Nordamerika. Also es passte nicht. Es war auch so, dass einige Fälle der Erkrankung in Regionen auftraten, wo es keine Spanische Grippe gab. Man hat dann auch noch einmal Anfang des 21. Jahrhundert versucht über das Labor die Erkrankung mit entsprechenden PCR-Tests zu untersuchen, konnte aber keine Influenza-RNA finden. Vielleicht war es auch zu schwierig nach 80 Jahren noch etwas zu finden. Man hat auch andere Keime in Betracht gezogen wie z.B. den Erreger der Kinderlähmung, also Polioviren sowie auch Streptokokken und teilweise auch Herpesviren. Aber es gibt keine Beweise. Momentan gibt es drei favorisierte Entstehungsmechanismen. Das eine wäre eine Infektion, weil es sich ja auch epidemisch ausgebreitet hat, das zweite wäre ein mögliches Umwelttoxin und das dritte, was die Wissenschaft als wahrscheinlichste Möglichkeit erachtet, ist eine Autoimmunerkrankung. Möglicherweise ein Virus, der dazu führt, dass Antikörper gegen eigenes Hirngewebe gerichtet werden. Das nimmt man ja momentan bei Long Covid auch an, also eine Autoimmungenese. Das bleibt für die Wissenschaft ein interessanter und sicher noch spannender Weg.

Uwe Blass (Gespräch vom 18.02.2022)

Jean-Baptist du Prel ist Mitarbeiter in der wissenschaftlichen Leitung des Lehrstuhls für Arbeitswissenschaft an der Bergischen Universität, wo er u.a. Präventivmedizin lehrt.

 

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