Kultur des Fußballs
Prof. Dr. Matías Martínez / Germanistik
Foto: UniService Transfer

 „Fußball ist ein Generator für künstlerische Kreativität“

Der Germanist Prof. Dr. Matías Martínez über die Kultur des Fußballs, die WM in Katar und die literaturwissenschaftliche Beschäftigung im Wintersemester

Herr Martínez, Sie haben vor einigen Jahren das Buch „Warum Fußball? – Kulturwissenschaftliche Beschreibungen eines Sports“ herausgegeben. Was interessiert den Literaturwissenschaftler an diesem Mannschaftssport?

Martínez: Anders als bei anderen Gegenständen akademischer Forschung gehört es bei diesem Thema zum guten Ton, sich durch eine private Affinität auszuweisen. Das könnte ich sogar - ich habe lange in Jugendmannschaften von Werder Bremen gespielt und bin immer noch bei den Alten Herren meines Dorfvereins aktiv -, ist aber für andere uninteressant. Als Literatur- und Kulturwissenschaftler fasziniert mich die enorme Anregungskraft von Fußball in der Gegenwartskultur. Fußball ist ein Generator für künstlerische Kreativität.

22 Spieler rennen 90 Minuten hinter einem Ball her, dann fällt ein Tor und die Welt flippt aus. Wie kommt das? Warum bedeuten Siege und Niederlagen dem Publikum so viel?

Martínez: Diese Faszinationskraft ist in der Tat erstaunlich. Denn verglichen mit politischen, wirtschaftlichen oder gesundheitlichen Ereignissen haben Fußballspiele ja keine unmittelbaren Auswirkungen auf das Leben des Einzelnen. Fußball ist für die existenziell wichtigen Bedürfnisse seiner Zuschauer bedeutungslos. Woher kommt also die Anteilnahme? Hier findet wohl eine psychische Übertragung statt: Als Fans erweitern und bereichern wir unsere personale Identität. Wir identifizieren uns emotional mit einem kollektiven Selbst, nämlich einer bestimmten Fußballmannschaft. Deren Siege und Niederlagen sind dann auch unsere eigenen. Außerdem identifizieren sich viele Fans mit einzelnen Spielern, die sie als Sporthelden verehren und mit denen sie eine parasoziale Beziehung pflegen. Ohne sie persönlich zu kennen, nehmen sie empathisch an ihren Leistungen und ihrem Ruhm, auch über den Rasen hinaus, Anteil. Und schließlich bietet der Fußball in einer hochkomplexen Gesellschaft ein ereignisdichtes Geschehen an, dass anschaulich, klar geregelt und in sich abgeschlossen ist.

Seit wann beschäftigt sich die Literaturwissenschaft mit dem Phänomen Fußball?

Martínez: In größerem Ausmaß erst seit den 1990er Jahren, als die Cultural Studies aus den USA und Großbritannien nach Deutschland kamen und die Populärkultur nicht mehr nur als Instrument der gesellschaftlichen Indoktrination wahrgenommen wurde. Als ich 1995 als Nachwuchswissenschaftler mein erstes Seminar über Fußball hielt, fanden einige KollegInnen das mutig (geschadet hat es aber wohl nicht). Inzwischen ist mir die akademische Begeisterung für das Thema Fußball fast schon über, eine Modeerscheinung, die etwas Anbiederndes hat.  

Der amerikanische Soziologe Thorstein Veblen nannte den Fußballsport „eine einseitige Rückkehr in die Barbarei, beziehungsweise eine Rückkehr zur natürlichen Bestie“. Was meinte er damit?

Martínez: Das Geschehen auf dem Rasen erschien Veblen wenig zivilisiert, der Mensch werde auf rohe Körperlichkeit reduziert. Aber das ist in mehrfacher Hinsicht falsch. Die Bewegungen der Spieler sind ja keine ungesteuerten Ausbrüche primitiver Impulse, sondern als Handlungen maßgeblich von Regeln und Taktiken bestimmt. Außerdem waren historische Vorformen des modernen Fußballs, wie der Soziologe Norbert Elias gezeigt hat, viel unkontrollierter und gewalttätiger. Der heutige Fußball ist nicht nur in seiner Vermarktung und medialen Vermittlung, sondern auch in seinem sportlichen Kern ein Zivilisationsprodukt, weil er physische Konkurrenz im Rahmen von Regeln austrägt. Das gilt natürlich auch für andere moderne Sportarten. Dass gerade der Fußball weltweit besonders erfolgreich ist, liegt wohl auch daran, dass er mit Hilfe von besonders wenigen, einfach auszuführenden Regeln ein komplexes und immer wieder überraschendes Geschehen hervorbringt.

Wissenschaftler stehen dem Breitensport sehr kritisch gegenüber. Theodor W. Adorno spricht z.B. vom „Element des Schwindelns“, und dem Soziologen Gerhard Vinnai dient Fußball in der Unterhaltungsindustrie zur „Einübung und Zementierung des herrschenden Realitätsprinzips“, um „die Opfer des entfremdeten industriellen Apparates bei der Stange“ zu halten. Das klingt wie Opium für das Volk, oder?

Martínez: Den Hauptvertretern der Frankfurter Schule, zu der Adorno und Vinnai gehören, waren die Freuden des Körpers und der Unterhaltung verdächtig. Wenn sie den Sport als Teil der Populärkultur überhaupt zur Kenntnis genommen haben, dann als politisches Instrument zur besseren Manipulation der Massen. Dass Zuschauer und Fans nicht einfach passive Manipulationsobjekte sind, sondern die Kultur des Fußballs selber aktiv mitgestalten, wird von diesem Ansatz übersehen. Das war übrigens typisch deutsch, in anderen Ländern hatten die Intellektuellen immer auch ein kulinarisches Verhältnis zu diesen Bereichen. Doch auch in Deutschland hat sich das seit den 1990er Jahren geändert.

Fußball und vor allem der Profifußball ist heute stark mit der Wirtschaft verwoben. Wenn man sich die Beträge anschaut, die einzelne Spieler bei einem Transfer einsacken, ist das kaum noch nachvollziehbar. Auch die Summen der Fernsehübertragungsrechte sind utopisch. Wird das Spiel an dieser Stelle zur Nebensache?

Martínez: Ich bin kein Wirtschaftswissenschaftler, aber mir scheint, dass ein Profispieler eben soviel wert ist, wie ein Verein bereit ist, für ihn zu zahlen. Meinetwegen kann Lionel Messi gern 140 Millionen Euro im Jahr verdienen. Was mich allerdings stört, sind die ungleichen finanziellen Voraussetzungen im nationalen und internationalen Vereinsfußball. Leistungssport stellt eine Konkurrenz zwischen formal gleichen Bewerbern her und bemisst den Erfolg rein nach sportlicher Leistung und nicht nach Herkunft, Religion oder anderen sportfremden Faktoren. Das ist auf dem Rasen nach wie vor der Fall. Aber der Profifußball wird immer stärker von immer weniger Vereinen beherrscht, die mit Hilfe von Mäzenen, Konzernen und ungleich verteilten Fernsehgeldern die besten Spieler kaufen können und so den sportlichen Erfolg monopolisieren. Deshalb wird es leider immer seltener, dass ein Verein wie der SC Freiburg, der im Finanzranking weit hinten liegt, die abgelaufene Bundesligasaison auf Platz 6 beendet und bis ins Pokalfinale vorstößt. Gewonnen hat den Pokal eine Mannschaft, die vom Red Bull-Konzern gesponsert wird und seinen Spielern viermal soviel bezahlt wie der SC Freiburg.

Im November beginnt die Fußballweltmeisterschaft im umstrittenen Katar. Gekaufte Stimmen haben seinerzeit den Ausschlag gegeben, sonst hätte die WM in den USA stattgefunden. Eine Whistleblowerin sagt sogar, dass alle Nationen versucht hätten, Stimmen zu kaufen. Die britische Tageszeitung The Guardian nennt für Katar die Zahl von 6500 toten Arbeitsmigranten seit Vergabe der Weltmeisterschaft im Jahr 2010. Amnesty international berichtet von diskriminierenden Gesetzen gegen Frauen und Homosexuelle sowie der angeblichen Unterstützung von Terrorgruppen. Sport soll immer unpolitisch sein, war es aber nie. Setzt die Austragung in einem solchen Land neue Prioritäten für den Fußballsport?

Martínez: Dass die Weltmeisterschaft in Katar stattfindet, sieht wohl kaum jemand außerhalb der Region mit Freude. Die letzte Fußballweltmeisterschaft fand in Russland statt, die letzte Winterolympiade in China. Sollten solche herausragenden Ereignisse des internationalen Sports in politisch anstößigen Ländern stattfinden? In Deutschland, wo die Nationalsozialisten die Olympiade 1936 propagandistisch massiv genutzt haben, fällt es schwer, diese Frage zu bejahen. Immerhin bieten solche Ereignisse nicht nur den Veranstaltern die Möglichkeit zur Propaganda, sondern auch den Medien Gelegenheit zu kritischer Berichterstattung. Ohne die WM wären die Misstände in Katar nicht so stark in den Fokus geraten. Ob die WM am Ende das internationale Ansehen Katars befördert haben wird, muss man abwarten.

Herr Martínez, Sie bieten im Wintersemester eine Vorlesung mit dem Titel „Die Kultur des Fußballs“ an. Welchen Schwerpunkt wird Ihre Vorlesung haben?

Martínez: Ich möchte literarische, journalistische, künstlerische und architektonische Gestaltungen des Fußballs analysieren. Ror Wolf montierte wunderbare Hörspiele mit O-Tönen aus Bundesliga-Live-Reportagen im Radio. Solche Live-Reporter haben die anspruchsvolle Aufgabe, eine Geschichte zu erzählen, deren Ende sie noch nicht kennen – narratologisch hochinteressant. Peter Handkes Readymade „Die Elf des 1. FC Nürnberg“, ein Text, der nichts als eine Mannschaftsaufstellung reproduziert, darf nicht fehlen. Auch Fußballweisheiten wie „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“ oder „Madrid oder Mailand, Hauptsache Italien“ sind dankbare Analyseobjekte. Es soll anregend werden, aber keine Spaßveranstaltung. Ein Trikot werde ich zur Vorlesung jedenfalls nicht anziehen.

Uwe Blass (Gespräch vom 09.06.2022)

Matías Martínez studierte Germanistik und Philosophie an der Georg-August-Universität in Göttingen und promovierte ebenda. Er habilitierte sich 2001 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und kam 2004 an die Bergische Universität. Hier hat er den Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturgeschichte inne.

 

 

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