Ein geistbegabtes Kind
Prof. Dr. Kurt Erlemann / Evangelische Theologie
Foto: Sebastian Jarych

Ein geistbegabtes Kind

Der Theologe Kurt Erlemann über die unbekannte Kindheit Jesu

Die Bibel berichtet über Jesu Geburt, die Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes geben uns Kenntnis über den erwachsenen 30 bis 40-jährigen Sohn Gottes. Aber was wissen wir über das Kind? Auf diese Frage antwortet der Wuppertaler Theologe Kurt Erlemann dann auch spontan: „Keine Ahnung“, denn es gibt tatsächlich keine historisch verlässliche Quelle, die darüber irgendeine Auskunft gibt. „Ich vermute, er war ganz normal“, sagt daher der Wissenschaftler, „das können wir jedenfalls anhand einer Episode in Markus 6, Verse 1-6 (Jesus in Nazareth) entnehmen, wo sich seine früheren Nachbarn und Freunde über ihn mokieren nach dem Motto: `Was? Der sagt, er sei Gottes Sohn und kann Wunder tun? Nein, der ganz bestimmt nicht.´ Also, er scheint ein ganz normaler Lausebengel aus der Nachbarschaft gewesen zu sein. Das einzige, was wir wissen, ist, er war seiner Mutter gehorsam. Das sagt zumindest das Lukasevangelium Kapitel 2, Vers 51. Mehr können wir nicht sagen, und selbst diese Auskünfte sind schwierig zu verifizieren, denn die Quellen, die man hat, sind Glaubenszeugnisse und keine historischen Tagebücher.“

Nur eine Kindheitsgeschichte findet sich im Lukasevangelium

In der Bibel findet sich nur im Lukasevangelium eine einzige Erzählung über den jungen Jesus. Es ist jene des zwölfjährigen Jungen, der im Tempel die Schriftkundigen mit seiner Intelligenz beeindruckt. Es scheint das einzige Kindheitsereignis gewesen zu sein, welches der Evangelist Lukas als theologisch aussagekräftig angesehen hat, mutmaßt Erlemann. Es zeige die Vollmacht zur Schriftauslegung Jesu schon in frühester Jugend, ohne dass er eine Schriftgelehrtenausbildung absolviert hatte. „Er war geistbegabt! Das zeigt sich schon in Lukas 1-3 bei seiner Zeugung und Taufe. Er bekommt den Heiligen Geist, und die vollmächtige Schriftauslegung ist ein erster Niederschlag seiner Geistbegabung. Das will Lukas hier zeigen. Geist ist stärker als die professionelle Ausbildung zum Theologen oder Schriftgelehrten.“ Die Geschichte zeige die prophetische Bestimmung Jesu, denn das, was er im Tempel tue, sei eigentlich, der Tempeltheologie den Spiegel vorzuhalten. „Er sagt damit, dass er einen Anspruch auf den Tempel hat. Er übt implizit Tempelkritik, und darin zeigt sich der prophetische Anspruch Jesu.“

Jesu Kindheit fehlt in den kanonischen Schriften

Außer dieser einen Tempelgeschichte gibt es in den kanonischen Schriften der Bibel keine weitere Kindheitsgeschichte. Das liege einfach daran, erklärt Erlemann, weil diese Phase seines Lebens theologisch unergiebig sei. „Das, was über ihn theologisch und im Sinne eines Glaubenszeugnisses zu sagen ist, wird im Erwachsenenalter sichtbar. In der Jugendzeit war er eben ein ganz normaler Junge. Das braucht man nicht in einem Evangelium zu repetieren.“

Kindheitsevangelien

Tatsächlich gibt es aber sogar mehrere Kindheitsevangelien. „Es gibt u.a. ein sogenanntes Protevangelium des Jakobus“, erklärt Erlemann, „oder das Arabische Kindheitsevangelium. Aber das bekannteste ist sicher das Kindheitsevangelium des Thomas. Dieses Evangelium ist apokryph, gehört also nicht in den Kanon der Heiligen Schriften und enthält viele Legenden über den kleinen Jesusjungen, der schon ab frühester Kindheit in der Lage war, Wunder zu vollziehen.“ Das seien auch ganz schräge Wunder zum Teil, Wunder, die verwechselbar seien, weil auch Herakles und auch Buddha ähnliche Wunder getan hätten. „Es geht darum, in den Legenden nachzuweisen, dass Jesus mindestens so wunderfähig war wie seine ´Kollegen´ aus den griechischen Mythen. Es gibt zahlreiche Legenden in diesem Kindheitsevangelium. Z. B. in Kapitel 9 geht es um die Erweckung eines verunglückten Spielkameraden. Der fällt beim Ballspielen von einem Flachdach herunter und ist tot. Jesus wird dann von den Eltern des Jungen beschuldigt, er hätte ihn umgebracht, und Jesus weckt ihn wieder auf, so dass der Junge sagen kann, Jesus hat keine Schuld.“ In einer anderen Geschichte erschaffe Jesus im Alter von fünf Jahren zwölf Spatzen aus Lehm. „Das Ärgerliche dabei ist dann, dass er sie an einem Sabbat gemacht hat. Da gibt es eine Anleihe an die synoptischen Evangelien, weil Jesus da ja auch öfter am Sabbat Wunder tut und er daraufhin von den religiösen Führern Ärger bekommt. Entsprechend regt sich auch sein Vater hier sehr auf, woraufhin der Junge die Spatzen in lebendige Vögel verwandelt, die fortfliegen, so dass alle sehr staunen, was dieser kleine Junge so draufhat.“ In einer weiteren Geschichte verfluche er einen Lehrer, der ihm auf die Nerven geht, weil dieser versucht, ihm das Alphabet beizubringen, was er ja schon könne. Der Lehrer sei total verzweifelt und bitte die Eltern, das Kind wieder mitzunehmen, da es ja schon die Weisheit der Welt habe. „An dieser Stelle hat er bereits die Wundermacht, die er auch als Erwachsener hat.“

Jesus im Tempel - eine der wenigen neutestamentlichen Szenen, die in der Kindheit spielen, Foto: gemeinfrei

Legendenbildung statt theologischer Bereicherung

Das Kindheitsevangelium des Thomas wurde sogar im vierten Jahrhundert durch die Päpste im sogenannten Decretum Gelasianum verboten. „382 n. Chr. wurde der Umfang des neutestamentlichen Kanons festgelegt“, erklärt der Theologe, „und da hat man zwischen kanonischen Heiligen Schriften und solchen unterschieden, die nicht in diese Kategorie passen.“ Dieses Kindheitsevangelium sei voller Legenden, und das habe man damals schon gemerkt. Es seien, heute würde man sagen, ´medienträchtige Wunder`, bei denen es nicht um theologische Bereicherung gehe. „Es gibt so viele Evangelien, die damals entstanden waren, die genau in diese Richtung gehen, und man wusste schon damals, dass diese Geschichten die Gemeinden nicht vorwärtsbringen. Das ist so wie heute in den sozialen Medien. Viele Klicks erreicht man, wenn Unglaubliches verbreitet wird. Die Menschen sind eben so. Sie haben schon immer eine Neugier nach solchen tollen Geschichten, die aber durch keinerlei Historie abgedeckt sind.“

Textfragment des Kindheitsevangeliums des Thomas 2024 in Hamburg entdeckt

2024 haben Hamburger Wissenschaftler ein Textfragment über die Jugend Jesu entdeckt, über welches die Presse viel berichtet hat. Dazu Erlemann: „Es ist ein kleines Fragmentstückchen aus dem Kindheitsevangelium des Thomas, was dort nach vielen Jahren Liegezeit in der Hamburger Universitätsbibliothek wiederentdeckt wurde. Man konnte es datieren auf das vierte oder fünfte Jahrhundert, und damit ist es älter als die Fragmente, die man vorher von diesem Evangelium hatte. Man kann sagen, die Urform dieses Evangeliums war nicht syrisch oder koptisch, sondern griechisch. Das Evangelium ist wohl gegen Ende des 2. Jahrhundert entstanden, da war die Legendenbildung in vollem Gange. In diese Sparte gehört es, also zu den älteren Apokryphen.“

Geschichte von Jesus als Kind findet sich auch im Koran

Wir wissen, dass der Koran aus Apokryphen christlicher Quellen tatsächlich schöpft“, sagt Erlemann. „Die Kenntnis des Propheten Mohammed über das Christentum stammt nicht aus in Rom ansässigen Lehren des frühen Katholizismus, sondern aus abgelegenen christlichen Splittergruppen, die damals auf der arabischen Halbinsel beheimatet waren.“ Von dort aus verbreiteten sich diese legendenhaften Geschichten weiter. „Dass Jesus diese Lehmtauben zum Leben erwecken konnte, ist für den Koran ein Beispiel dafür, wie Gott, der Allmächtige, einen Menschen zu Wundertaten bevollmächtigen kann. Im Koran geht es nicht darum, die Gottheit Jesu darzustellen – im Gegensatz zu den apokryphen Darstellungen im Christentum, sondern es geht um Gott, der allmächtig ist und der in seiner Allmacht auch einem Menschen eine solche Fähigkeit zeitweise überträgt. Jesus hat eine ganz besondere Stellung im Islam, das wissen wir, aber er ist nicht Gottes Sohn. Er war ein Prophet und Gott stand ihm nah und hat ihm hin und wieder die Gabe gegeben, dass er Wunder tun konnte.“

Kinder in der religiösen Welt

Kindheitsdarstellungen in der Antike sind generell anders als heutige Beschreibungen. „Kinder spielten längst nicht die Rolle, die Kinder des 21. Jahrhunderts in Deutschland spielen. Ich sage immer, wir älteren Menschen sind ja noch in einer elternzentrierten Welt aufgewachsen. Heute leben wir in einer kinderzentrierten Welt. In der Antike war es noch viel mehr elternzentriert.“ Aus anderen Zusammenhängen aus der Antike wisse man, dass Kinder in erster Linie die Alterssicherung der Eltern waren und nicht Menschen mit eigener Persönlichkeit. Sie waren keine vollwertigen Menschen, sie waren in einem Stadium, bevor sie eigentlich Mensch wurden, gehörten als Besitz den Eltern und hatten zu tun, was diese sagten.
Davon zeuge u.a. die Kindersegnung in Markus 10,13-16, die bei Taufen rezitiert wird, wo Jesus die Kinder segnet. „Irgendwelche Eltern bringen Kinder zu Jesus und die Jünger werden sauer und fordern die Eltern auf, die Kinder wieder mitzunehmen. Kinder hatten nicht den Stellenwert und Jesus kehrt das in diesem Moment um. Er sagt: `Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solchen gehört das Reich Gottes.` Das ist schon sehr speziell. Die Kinder werden hochgestuft, auf Kosten der Jünger, die in diesem Moment die Welt nicht mehr verstanden haben. Jesus stellt die Kinder als Vorbild des Glaubens in die Mitte. Durch sie kommt man ins Reich Gottes. Das war eine Revolution!“

Uwe Blass

Prof. Dr. Kurt Erlemann leitete den Lehrstuhl für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche an der Bergischen Universität.