Lied und Musik im Geschichtsunterricht
Prof. Dr. Juliane Brauer / Geschichte
Foto: Friederike von Heyden

Zu allen Situationen des Lebens haben wir Lieder

Die Musik- und Geschichtswissenschaftlerin Juliane Brauer über die Bedeutung von Musik und Liedern im Geschichtsunterricht

„Wind of change“ (Scorpions), „Candle in the wind“ (Elton John) und „Only time“ (Enya) sind zugegebenermaßen nur Popsongs. Aber können sie auch eine Bedeutung für unser Geschichtsverständnis haben? Denken wir an den Mauerfall 1989, den Tod Prinzessin Dianas 1997 oder die Zerstörung des World Trade Centers 2001, kommt diesen Liedern doch eine ganze besondere Wertschätzung zu. Die Professorin für Geschichte und ihre Didaktik Dr. Juliane Brauer beschäftigt sich an der Bergischen Universität mit der Bedeutung von Musik und Liedern im Geschichtsunterricht und sagt: „In Liedern haben Menschen schon von jeher ihre eigenen Wünsche, ihre Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft, ihre eigenen Sehnsüchte und ihre Weltwahrnehmung eingeflochten.“ In ihrem Buch mit dem Titel ´Lied und Musik im Geschichtsunterricht` geht die Wissenschaftlerin der Entstehung und Nutzung von historischen Liedern und deren besonderen Anwendungsmöglichkeiten im schulischen Unterricht nach.

Musik (…) kann ein Schlüssel für die Vorstellungskraft vergangener Zeiten sein

Volkslieder und Heimatlieder liegen sicher nicht im Trend. Aber sie schildern nach Meinung Brauers anschaulich, welche Sehnsüchte Menschen in vergangenen Zeiten hatten. In den Liedern werde erzählt, was die Menschen dachten. „Wir haben mit historischen Liedern eine Quelle, die sehr dicht an der Zeit ist und uns einen unmittelbaren Zugriff auf das ermöglicht, was Menschen gefühlt, gedacht, gewünscht und erhofft haben.“ Diese besondere Quelle für eine Emotionsgeschichte werde von vielen Geschichtslehrern meist nur textlich untersucht. „Aber das hilft im Zweifel nicht“, sagt Brauer, „weil Lieder im Gegensatz zu Gedichten gemeinsam gesungen werden können. Das ist das besondere Potential von Liedern. Sie werden öffentlich aufgeführt oder in einem sozialen Raum kommuniziert.“ Selbst in den dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte sind sie von besonderer Bedeutung. „Ich habe mich auch mit Singen in Konzentrationslagern als Überlebensstrategie auseinandergesetzt. Da kann man sehen, was die emotionale Kraft des Singens sein kann. Und so kommt man über das Lied an sich, aber auch die Situation des Singens in bestimmten historischen Kontexten, sehr tief in die Geschichte und der vergangenen Vorstellungswelten hinein.“

Historische Musik im modernen Geschichtsunterricht

Ob Singen per se glücklich mache, bezweifelt die Historikerin. Zwar begeistern sich Menschen nicht ohne Grund am sogenannten Rudelsingen, zu dem man zusammenkommt und unter professioneller Leitung Popsongs singt, und auch der Chorgesang an sich stärke ein großes Gemeinschaftsgefühl, dem man gerne angehöre, doch die Geschichte zeige auch ganz andere Beispiele im Kontext von Gewalt und Diktaturen. Sicher ist, dass das 19. Jahrhundert mit Fug und Recht als Singejahrhundert bezeichnet werden könne. „Da gründen sich die bürgerlichen Gesangsvereine und das Motto war: ´Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder`, sagt Brauer, ein Trugschluss, wie auch die Geschichte des 20. Jahrhunderts lehre. „Diese Grundidee, dass Singen die Menschen besser mache oder moralisch gut ist, das wird kontrastiert, wenn man sich anguckt, in welcher Situation der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts gesungen wird. Ich habe mir Singen in Schützengräben des 1. Weltkrieges angeguckt, Singen auf dem Feld, Singen in Konzentrationslagern. Auch die SS-Wachmannschaften haben von sich behauptet, gute Menschen zu sein und Musik zu lieben und haben dann jüdische Gefangene mit dem Befehl zu singen gequält.“ Ein anderes Bespiel: Auch das Singen in der DDR zeige deutlich, dass es gezielt manipulativ eingesetzt wurde, um Kinder und Jugendliche in eine bestimmte Richtung zu erziehen.

Im Geschichtsunterricht wird nicht gesungen. Wie also vermittelt man Lieder dann? Historische Lieder sind eine zusätzliche Quelle, die man nutzen kann, weiß die Wissenschaftlerin und nennt als Beispiel die Hymne der Hitlerjugend. „´Unsere Fahne flattert uns voran…`. Das Lied ist verboten, in Bildungskontexten dürfen wir es aber verwenden. Es braucht gar nicht gesungen zu werden, um trotzdem verstehen zu können, dass es eine emotionale Wirkkraft hat. Der Punkt ist, dass wir heute mit unseren Emotionen und unserem Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, mit unserem Dasein und unserer Lebenswelt, einen ganz anderen Zugriff auf dieses Lied haben, als die Pimpfe in den 30er Jahren. Daher macht das Nachsingen an dieser Stelle auch keinen Sinn. Wenn wir uns also mit historischen Liedern als Quelle beschäftigen, tun wir das, ohne die Emotionen von damals nachzuempfinden, sondern mit dem Ziel zu verstehen, welche emotionale Dynamik damals gezielt produziert wurde, um Menschen für eine Ideologie zu begeistern.“

Zu allen Situationen des Lebens haben wir Lieder.

Lieder gibt es sicher, solange es Menschen gibt“, sagt Brauer. Es gebe zwar wenige Überlieferungen, jedoch viele Abbildungen und Darstellungen bereits aus der Antike, die uns von Kunstgesängen und Instrumenten berichten. Lieder  tragen ein Gemeinschaftsgefühl auch über weite Strecken. Das Singen der Sklaven auf den Baumwollfeldern Nordamerikas stehe z.B. dafür, der Rhythmus der Lieder gab den Takt für die monotonen Arbeiten. Und Mütter signalisieren ihren Kindern mit Gesang bis heute, dass sie da sind.
Über die Inhalte der Lieder könne man auch heute nur spekulieren, berichtet Brauer, denn die Überlieferung bis zum Spätmittelalter sei schwierig. „Wir haben zwar eine Idee davon, was ungefähr gesungen wurde“, sagt sie. „Im Mittelalter haben wir den Minnegesang, diesen Liebeswerbegesang der Ritter. Wir wissen aber auch, dass im Mittelalter in den Dörfern und zu Dorffesten gesungen wurde. Wir haben aus der Frühen Neuzeit die Bauernklagegesänge, in denen der mühselige Alltag und das harte Leben beschrieben wird, in denen Tod und Vernichtung durch den Krieg besungen wird.“

Im 18. Jahrhundert ändere sich dann die Quellenlage. Das beginne z.B. mit dem Dichter Johann Gottfried Herder (1744 – 1803), der anfange, Kinderlieder zu sammeln. Darin könne man auch sehr schön den Erziehungsgedanken der Zeit nachvollziehen. Ferner seien auch Tanzlieder, Kriegslieder und Klagelieder überliefert.

Der Sound der Vergangenheit

Heute weiß man oft gar nicht mehr, wie Musik in früheren Jahrhunderten geklungen hat. „Wir wissen es tatsächlich nicht und kommen auch nicht ran“, verrät Brauer, sieht diese Tatsache für das historische Lernen aber als sehr wertvoll an und fährt fort: „Das historische Lernen ist immer ein Lernen von etwas, was nicht da ist. Schüler lernen zu verstehen, dass alles, was ich über Geschichte präsentiere und erzähle, eine Konstruktion, eine Erzählung, eine Geschichte ist, die ich mir zusammenbaue aufgrund der  Quellen, die ich habe.“ Den Minnesang könne man sich heute leicht über Mittelaltermärkte oder das Internet erschließen, weil es dort immer Bands gebe, die sich mit mittelalterlicher Musik beschäftigten. „Und dann kann man sagen:Ja, so glauben wir heute, dass es so geklungen hat, denn wir kennen die Quellen und die alten Instrumente. Das ist aber eine Konstruktion, unsere Vorstellung von heute, wie die Musik wohl damals geklungen haben mag“.

Jimi Hendrix und die Nationalhymne

Damit Schüler*innen bereit sind, sich mit historischer Musik auseinanderzusetzen, müssen Hörgewohnheiten durchbrochen werden.

Brauer bietet einen Methodenpool an und unterbreitet Vorschläge, wie man mit Liedern im Unterricht arbeiten kann. Am Beispiel der amerikanischen Nationalhymne könne man vom gewohnten Tonbeispiel des orchestralen Werks abrücken und im Unterricht eine Interpretation anbieten, die dem Original völlig wiederspreche. „Eine Interpretation davon ist die von Jimi Hendrix in Woodstock. Die Nationalhymne der USA intoniert er auf seiner E-Gitarre 1969. Er verzerrt die Hymne elektronisch. Die Melodie ist die gleiche, aber er interpretiert sie so mit akustischen Rückkopplungen, Vibrato, Schlagzeug usw. so, dass es nach Bombeneinschlägen und dem Rattern von Maschinengewehren klingt. Das ist sein Statement gegen den Vietnamkrieg und damit auch eine Hymne der amerikanischen Friedensbewegung.“ Darauf aufbauend könnte man fragen, warum Menschen überhaupt eine Nationalhymne bräuchten und sei dann schon mitten im historischen Thema drin.

Liedbiographien

Eines der moderneren Weihnachtslieder aus dem frühen 19. Jahrhundert ist das Lied „Stille Nacht“, welches 1818 im Salzburger Land entstand. „Darüber gibt es schöne Deutungen, Erzählungen und Filme“, erklärt die Fachfrau. „Die Frage ist, welche Bedeutung hat das Lied über die Zeit? Warum ist es bis heute das berühmteste Weihnachtslied geblieben mit Übersetzung in zahllose Sprachen?“ Dazu betrachtet sie die verschiedenen Kontexte, in denen es gesungen wurde. Dazu gehöre sicher das bürgerliche Wohnzimmer im Kaiserreich, aber auch die Schützengräben im 1. Weltkrieg, in denen es nach Überlieferung Weihnachten 1914 von deutschen, belgischen und schottischen Soldaten gemeinsam während einer Art kurzfristen Waffenstillstands gesungen wurde, dem sogenannten Weihnachtswunder. Eine gänzlich andere Bedeutung komme dem Lied zu, wenn man weiß, dass die SS im Konzentrationslager Sachsenhausen 1941 die Häftlinge antreten ließ und diese dann die ganze Nacht dieses Lied singen mussten. „Dann ist es wieder Zwang. Es ist Gewalt, und das Lied bricht die Identität der Gefangenen, weil sie auf einmal dieses Lied nicht mehr mit Sicherheit, Häuslichkeit und guten Zeiten verbinden konnten, wer weiß, ob sie jemals wieder in ihrem Leben dieses Weihnachtslied singen konnten, ohne die Angst und Verzweiflung im KZ Sachsenhausen zu denken.“ Die Bedeutung von Liedern verändere sich im Gebrauch und über die Zeit, und das sei hochspannend.

Popsongs können Zeitgeschichte abbilden

Der Umgang mit Zeitgeschichte lasse sich im Unterricht wunderbar kreativ mit Liedern gestalten, sagt Brauer, so dass Schüler neue Erkenntniswege fänden. Die potentielle Produktion eines Musikvideos wäre dazu eine machbare Variante. So können Popsongs  auch die deutsch-deutsche Zeitgeschichte gut abbilden. „Ein Beispiel wäre ´Wind of change` von den Scorpions, weil das der Song zum Sound des Falls der Berliner Mauer geworden ist.“ Interessant daran sei das dazugehörige Musikvideo, welches erst 2009, damit 20 Jahre nach Erscheinen des Liedes produziert wurde und deutlich zeige, dass sich die Hoffnungen von 1989 nicht erfüllt hätten. 2022 wurde sogar aufgrund des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine der Text noch einmal verändert, weil die Band die Schwärmerei von Russland in der ersten Strophe nicht fortsetzen wollte.

„Wir haben wieder Naturkatastrophen, neue Kriege sind wieder ausgebrochen, die Wiedervereinigung hat nicht zu den „blühenden Landschaften“ geführt, die der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl versprochen hat und die sich die Menschen in der Euphorie der Jahre 1989/90 erhofft haben. Ein eigenes Musikvideo zu einem historischen Lied drehen, ist eine kreative Auseinandersetzung mit Geschichte, die für  die heutigen Schüler weit weg ist. So gibt es  auch heute noch Spuren der deutsch-deutschen Teilung  in der deiner eigenen Lebenswelt, die man finden kann.“ Dann gehe es darum, Produkte, Sprache, Popkultur oder Feiertage zu entdecken, die auf den Mauerfall zurückgehen und bis heute in unserem Leben zu finden seien. „Damit können Schüler eine Interpretation der Geschichte aus ihrer eigenen Lebenswelt erstellen mit der Frage: Was hat das heute mit mir zu tun?“

Neue Wege im Geschichtsunterricht

Die Nutzung von Musik und Liedern im Geschichtsunterricht liege nicht so auf der Hand, weiß die Wissenschaftlerin, zu sehr hätten Geschichtslehrer- und Lehrerinnen Respekt vor dem Notentext. Dabei sind Musikkenntnisse gar nicht nötig, um mit Musik historisch zu arbeiten. „Man kann auch viel über Hören arbeiten, also Höraufträge verteilen. Welche Worte werden betont? Zu welchen Assoziationen führt eine Melodie? Musik macht immer etwas mit dem Text. Ich nutze diese Methode regelmäßig in der Lehre für die zukünftigen Geschichtslehrer*innen, um sie mit historischen Liedern vertraut zu machen. Auch im Rahmen von Lehrerweiterbildungen gebe ich Workshops.“

Ziel ist es, neue Wege zu beschreiten, die den Geschichtsunterricht interessanter machen. Und Material komme immer neu hinzu. „Erst im letzten Jahr“, sagt Brauer abschließend, „gab es das Lied „Scheiss Wessis“ von den Toten Hosen und passend dazu „Scheiß Ossis“ von Materia, Songs, die sehr schön die Befindlichkeiten in unserer Wiedervereinigungsgesellschaft beschreiben.“
 

Am 23. Februar findet dazu in der CityKirche in Elberfeld um 20.00 Uhr eine Veranstaltung mit dem Titel „89rockt“ statt. Auf diesem von Juliane Brauer mitorganisierten Gesprächskonzert wird genau dieser Frage nachgegangen, inwiefern Popkultur und Musik sich anbieten, um über die Wiedervereinigung und ihre Folgen miteinander ins Gespräch zu kommen. Die Veranstaltung mit dem Autoren Hendrik Bolz und der Musikerin Lùisa ist kostenfrei.
 

Uwe Blass

Prof. Dr. Juliane Brauer lehrt Geschichte und ihre Didaktik in der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften an der Bergischen Universität Wuppertal. Ihre Forschungsschwerpunkte im Bereich der Geschichtsdidaktik sind Emotionen und historisches Lernen, Musik im Geschichtsunterricht, Imagination und historisches Lernen sowie digitale Geschichtskulturen. Für die Neuere und Neueste Geschichte forscht und lehrt sie vor allem zur Geschichte des geteilten Deutschlands.

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