
Schlager – ein Resilienzelixier
Dr. Antonius Weixler / Neuere Deutsche Literaturwissenschaft
Foto: UniService Third Mission
Schlager – ein Resilienzelixier
Antonius Weixler über die transgenerationelle Verbindung des deutschen Schlagers
Was haben Der lachende Vagabund von Fred Bertelsmann, Junge, komm bald wieder von Freddie Quinn und Butterfly von Daniel Gerard gemein? Es sind die kommerziell erfolgreichsten deutschen Schlager des 20. Jahrhunderts mit über zwei Millionen verkaufter Tonträger. Dr. Antonius Weixler, Germanist an der Bergischen Universität, hat sich mit dem deutschen Schlager auseinandergesetzt, zu dem es auch einige Beispiele aus Wuppertal gibt.
Mädchen aus Wuppertal
„Es gab einen Wuppertaler Schlagersänger, der sich den kongenialen Künstlernamen Ted Power gegeben hat“, erzählt der Wissenschaftler. „Mit dem Song Mädchen aus Wuppertal legte er eine ganz besondere Schlagerperle vor.“ Weixler nennt auch das Musikprojekt Honk und deren Hit Hallo Helmut. „Im Refrain reimt sich dann ‚Senegal, illegal, scheißegal‘ auf Wuppertal.“ Der Folgehit der Band heißt dann ‚Wochenende, saufen, geil‘, und das bringe die Schlagerformel vielleicht ganz prägnant auf den Punkt, erklärt er, denn im Schlager gehe es ja auch immer ein wenig darum, durchaus im problematischen Umfang Alkoholkonsum zu zelebrieren und hedonistische Entgrenzung zu feiern. Erst vor einiger Zeit hat der renommierte Literat Heinz Strunk das Drehbuch für die Serie Last Exit Schinkenstraße geschrieben und darin auch die Hauptrolle gespielt. Und bei dieser Serie über den Ballermann könne man nicht genau sagen, ob es eine Liebeserklärung an den Malle-Schlager oder doch eher eine Persiflage sei. „Wahrscheinlich liegt die Wahrheit ein bisschen dazwischen. Das ist auch mein doppelter Blick auf den Schlager, und deswegen habe ich auch eine kleine Schwäche für die eher skurrilen Spielarten.“

Deutschlands erste Boy-Band? Comedian Harmonists 1928
Foto: gemeinfrei
Der Schlager kommt von der Operette
„Begriffsgeschichtlich kommt die Bezeichnung aus dem 19. Jahrhundert“ berichtet Weixler“, „1886 wurde der Schlager zum ersten Mal in Wien erwähnt, damals meinte man damit vor allem besonders erfolgreiche Musikstücke, die aus Operetten herausgelöst zum Hit wurden.“ Der Begriff Gassenhauer entstand dort ungefähr zur gleichen Zeit, als etwa Vater und Sohn Strauß richtige Gassenhauer- und Operettenlieferanten waren. Unser heutiges Begriffsverständnis habe das Wort dann aber eher in den 1920er Jahren angenommen. In dieser Zeit waren u.a. die Comedian Harmonists, ein internationales Berliner Vokalensemble, sehr erfolgreich, die man aus heutiger Sicht vielleicht als die erste Boy-Group bezeichnen könnte. Ein rein deutsches Phänomen sei der Schlager jedoch nicht. „Ich würde da eher auf transkulturelle und interkulturelle Entwicklungen schauen“, sagt der Wissenschaftler, denn beim Blick auf dieses und auch alle anderen Genres könne man über die ganze Kunst- und Literaturgeschichte hinweg und sowohl in der Hoch- wie auch der Popkultur erkennen, dass sich ästhetische Formen über die Ländergrenzen hinweg immer wieder gegenseitig beeinflussten. „Kultur ist nichts, was in Ländergrenzen stattfindet, insofern würde ich eher sagen, dass Schlager weniger ein deutsches Phänomen ist als vielleicht eher eine deutsche Spielart des Pop.“
Schlager und Propaganda
In der Zeit des Nationalsozialismus wurde der Schlager oft missbraucht. Davon geht die Welt nicht unter ist z. B. ein Durchhalteschlager, der nach dem Krieg als Widerstandslied interpretiert wurde. Und auch Heintjes Mama aus den 1960er Jahren ist eigentlich ein 1938 komponierter Schlager, der in einem Film eingesetzt wurde, welcher von der nationalsozialistischen Blut-und-Boden-Ideologie durchtränkt war. Warum der Schlager so gut für Propagandazwecke funktionierte, erklärt Weixler so: „Der Schlager ist ein Phänomen der Populärkultur, der vielen gefällt und auch deshalb vielen gefällt, weil er auf einfachen Formen mit einfachen und eingängigen Botschaften beruht. Dadurch gibt es strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Schlagertexten und politischen Parolen. Sie liefern beide Botschaften, die einen irgendwie direkt ansprechen wollen und vor allem direkt eine emotionale Wirkung auslösen wollen. Diese Mischung bleibt dann sofort im Gedächtnis. Deswegen müssen solche populären Formen eigentlich fast naturgemäß das Interesse von Propaganda finden, denn auch Propaganda beruht nicht auf Fakten und will die Menschen vor allem emotional ansprechen.“
Der Schlager im Wirtschaftswunder
Nach dem Zweiten Weltkrieg sorgten dann die Italo-Schlager für Furore, die eine Fernsehnsucht spiegelten, die es – mit einem entscheidenden Unterschied – bereits in den 1920er Jahren gab. „Der Schlager der Weimarer Republik war eigentlich so die erste Hochphase und ist stark geprägt von Exotismus, also von der Sehnsucht nach der Ferne, wobei das damals ein Sehnsuchtsgefühl für Leute war, die selber eher nicht reisen konnten. Das war damals noch eine imaginierte und keine gesehene Ferne.“ Das änderte sich nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit dem Wirtschaftswunder und dem entstehenden Massentourismus in den 1950er Jahren werde die Ferne dann eine tatsächlich gesehene Ferne. „In dieser Zeit war Italien das Hauptreiseland der Deutschen und der Italo-Schlager ist deshalb so erfolgreich in dieser Zeit, weil er etwas von diesem Lebensgefühl mit nach Deutschland zurückbringt. Wenn die Deutschen nach Italien fahren, dann lernen sie nicht nur Sonne und Meer kennen, sondern sie lernen auch ein neues Lebensgefühl kennen, nämlich ein Gefühl der Leichtigkeit und Lockerheit, das Dolce far niente (Die Süße des Nichtstuns, Anm. d. Red.), das von der deutschen Engstirnigkeit, deutschem Fleißideal und deutscher Spießigkeit doch sehr stark abweicht.“ Und das wiederhole sich bis heute, denn was der Italo-Schlager der 1950er Jahre war, sei der Malle-Schlager heute.

Der erfolgreichste Unterhaltungssänger von 1956 – 1966: Freddy Quinn (1977),
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Internationale Interpreten singen deutsch
Zwischenzeitlich sangen auch viele internationale Künstler wie die Amerikanerin Connie Francis, der belgische Musiker Salvatore Adamo, die Schwedin Siw Malmkvist, die Französin Mireille Mathieu und die beiden Griechinnen Vicky Leandros und Nana Mouskouri deutsche Schlager. Dazu Weixler: „Vicky Leandros mit Ich liebe das Leben von 1975 hat ja gerade so ein kleines Revival und wurde kürzlich von Nina Chuba, der wesentlichen Popkünstlerin unserer Zeit in Deutschland, durch eine schöne Coverversion noch einmal besonders geadelt. Internationalität oder die Sehnsucht nach Ferne ist generell ein Hochphänomen von Popkultur und daher des Schlagers eben auch.“ Schon in der Nachkriegszeit sei es so gewesen, dass auch internationale Stars ganz unterschiedliche Sprachversionen von Songs aufgenommen hätten, um mehrere Märkte zu bedienen. Der deutsche Musikmarkt sei auch immer schon einer der größten und lukrativsten in Europa gewesen. „Die Beatles haben mit Komm gib mir deine Hand einen Song auf Deutsch aufgenommen, Elvis sang Muss i denn zum Städtele hinaus, das war damals durchaus üblich.“ Mit kritischem Blick erklärt Weixler, dass Internationalität zwar schon positiv rezipiert werde, aber dass es in der Nachkriegszeit eben immer eine deutschsprachige Internationalität sein musste. „Damit könnte man kolonialismuskritisch und vielleicht auch kollektivpsychologisch sagen, dass sich nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg in der Nachkriegszeit in dieser verdeutschten Internationalität so etwas wie ein Restbestand eines nationalistisch kolonialistischen Überlegenheitsgedankens äußert.“

Musikalischer Minimalismus: Die Band Trio 1982 Foto: CC BY-SA 3.0
Tod und Wiederauferstehung
Aus den 1960er und 1970er Jahren, bekannt vor allem durch die Hitparade mit Dieter Thomas Heck, kennen viele Menschen noch Dauergäste wie Michael Holm, Toni Marschall, Katja Ebstein oder Marianne Rosenberg. In den 1980er Jahren galt der Schlager dann als tot. „Ich würde sagen, die Neue Deutsche Welle (NDW) war der zwischenzeitliche Tod des Schlagers“, erläutert der Wissenschaftler, „denn in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren entsteht zum ersten Mal eine deutschsprachige subversive Popgattung. Zumindest in der Anfangszeit war die NDW eine Gegenkultur, die internationale Strömungen wie New Wave, Punk, Industrial und elektronische Musik mit deutschen Texten kombinierte. Es entstand dann relativ schnell eine Mainstreamüberproduktion, und das war dann auch schnell wieder das Ende der Neuen Deutschen Welle.“ Zum ersten Mal habe man in dieser Zeit deutsche Texte, die nicht bieder waren und die keinen anzüglichen Pennälerhumor bedienten, sprich deutsche Texte, die nicht peinlich waren, sondern sogar cool wirkten, mit frischer, meist elektronischer Musik kombiniert. „In dieser Zeit der NDW wird der Schlager dann zur Musik der Älteren, und so ein Image war schon immer der Todesstoß für jede popmusikalische Gattung.“
Mit Guildo Horn wurde es dann wieder etwas skurriler und in den 2000er Jahren kam dann die nächste Generation mit Helene Fischer, Andrea Berg und Florian Silbereisen und begeistert wieder viele Menschen. „Der Schlager schafft das, weil die Lieder bekannt sind, eingängig sind und Emotionalität transportieren“, betont Weixler, „zudem haben sie eine starke Gegenwärtigkeit.“ Was andere Popgattungen nicht schafften, sei eine transgenerationelle Verbindung. „Schlager ist die einzige Gattung, die es schafft, Generationen beim Feiern miteinander zu verbinden. Das ist die große integrative Kraft des Schlagers.“ Man könne ohne weiteres den Schlager auch mit ganz alten Volksliedern verbinden, denn, wenn man auf die Literaturgeschichte schaue, gäbe es immer wieder Verfechter dieser einfachen Formen des Populären. „Auch Johann Gottfried Herder schreibt schon in den 1770er Jahren über solche Volkslieder, dass diese nicht fürs Papier und die stille Lektüre, sondern für den gemeinsamen Gesang geschrieben seien. Er beschreibt auch, dass die Idealtonlage von solchen Volksliedern, in seiner Formulierung, ein einfacher ‚Kinderton‘ sei. Da dieser ‚Kinderton‘ einfach und nahezu unabhängig vom Bildungsstand oder Vorwissen sofort zu verstehen sei, führt diese Ad hoc-Verständlichkeit dazu, dass man diese Texte sofort mitsingen kann. Dadurch vermitteln die Texte eine affektiv-sinnliche Komponente und sorgen dann für Belebung, Sinnlichkeit und Lebensfreude. Und das wiederum verbindet die Generationen.“
Ein Resilienzelixier
Der Journalist Franz Kasperi sagt: „Schlager ist Resilienz in Dur“. Das klinge schon sehr nach Adorno, schmunzelt Weixler, der ja bekanntermaßen der klassische Kritiker von populären Formen und vom Schlager im Besonderen gewesen sei. „Er hat seine Kritik auf diese genial prägnante Formel ‚Fun ist ein Stahlbad‘ gebracht. Damit meint Adorno ja, dass der Eskapismus, die Wirklichkeitsflucht, die in solchen populären Formen stecke, nur dazu diene, dass die Rezipienten dann weiterhin der zweckrationalen Verwertungslogik des Kapitalismus zugänglich seien, also für schwere, kraftzehrende Arbeit einsetzbar sind und bleiben.“ Wenn man sich Dokumentationen über Schlagerfans angucke, dann höre man ganz oft solche Formulierungen wie „Die Arbeitswoche war hart… und jetzt wollen wir am Wochenende ein bisschen Spaß und heile Welt haben.“ Der Schlager werde dann zu einem Resilienzelixier. Der Musiksoziologe Hans Egon Holthusen schrieb dazu: „Dies alles kann in der schlechthin sterblichen Musik der Saison vielleicht intensiver erlebt werden als in der großen Musik der Genialen.“ Für Weixler habe der Schlager auf jeden Fall das Potential der Verführung für den Augenblick. „Er erzeugt eine Gegenwärtigkeit, aber immer im Modus der Sehnsuchtslage.“
Nicht unerwähnt in diesem Zusammenhang sollte natürlich der Bill Ramsey Klassiker Zuckerpuppe aus der Bauchtanzgruppe von 1961 bleiben, der in der Hitparade bis Platz fünf kam und sich satte fünf Monate in den Charts hielt. Am Ende heißt es da so schön: „… Denn die Zuckerpuppe aus der Bauchtanztruppe kannte ich aus Wuppertal, aus Wuppertal“.
Uwe Blass
Dr. Antonius Weixler arbeitet als Lehrkraft für besondere Aufgaben in der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft der Bergischen Universität.