Der bedeutendste Bariton des 20. Jahrhunderts
Prof. Dr. Thomas Erlach / Musikdidaktik
Foto: UniService Third Mission

Das optimale Gesamtpaket musikalischer Intelligenz

Der Musikwissenschaftler Thomas Erlach über den bedeutendsten Bariton des 20. Jahrhunderts: Dietrich Fischer-Dieskau

Am 28. Mai 1925 wurde in Berlin der deutsche Bariton Dietrich Fischer-Dieskau geboren. Mit über 400 Schallplattenproduktionen gilt er als der Sänger, von dessen Interpretationen auf Tonträgern die meisten Einspielungen existieren. Leonard Bernstein nannte ihn: „The most significant singer of the 20th century“. Wie kam er zu dieser Einschätzung?

Thomas Erlach: Bernstein wusste, was er sagt, denn er war selbst ein Ausnahmemusiker und erkannte in seinem etwas jüngeren deutschen Kollegen einen ebenbürtigen Partner, mit dem er auch gelegentlich zusammen auftrat und Schallplatten einspielte. Fischer-Dieskau besaß das optimale Gesamtpaket an musikalischer Intelligenz: eine wohlklingende Stimme, eine erstaunliche Technik, Sinn für Sprache und Lautfärbung, Begabung für Schauspiel und Charakterzeichnung und, wie Bernstein, große Vermittlungsqualitäten. Während viele Starsänger Tenöre sind und waren, war „FiDi“, wie er unter Kollegen oft genannt wurde, ein Bariton, also die mittlere männliche Stimmlage zwischen Tenor und Bass. Darüber äußerte er einmal etwas launig: „Der Bariton ist ein Zwitter und verbringt sein Leben im Niemandsland zwischen Lyrik und Dramatik.“

Er stammte zwar nicht aus einer Musikerfamilie, aber aus einem musikfreundlichen Elternhaus. Schon als Kind führte er zu den Klängen einer Schallplatte mit seinem Puppentheater den Freischütz (eine Oper von Carl Maria von Weber) auf. Zunächst wollte er nämlich lieber dirigieren als singen, was er dann viel später, mit knapp 50 Jahren, auch tatsächlich verwirklichte. Seine Gesangsausbildung begann er mit 16, ein erster öffentlicher Auftritt fand 1942 in Berlin statt. Schon damals sang er fast die gesamte Winterreise, aber das Konzert musste wegen eines dreistündigen Fliegerangriffs unterbrochen werden und wurde anschließend fortgesetzt. Sicher eine prägende Erfahrung für ein Debut in diesem Alter. Er wurde dann zur Wehrmacht eingezogen und unter anderem in Russland bei einer Veterinäreinheit zur Rettung von verletzten Armeepferden eingesetzt, denen er zur Beruhigung etwas vorsang. Später studierte er an der Berliner Musikhochschule, was aber eine untergeordnete Rolle in seiner Berufsausbildung spielte, denn die Förderung und Beratung durch den Dirigenten Wilhelm Furtwängler und andere Mentoren waren für ihn wichtiger. Heinz Tietjen, Intendant der Berliner Oper, an der FiDi ab 1948 auftrat, ermöglichte ihm eine vielseitige Karriere, da er ihn für Konzerte vom regulären Spielbetrieb beurlaubte – schon damals ein seltenes Privileg. Fischer-Dieskau leistete außerdem, ohne großes Aufsehen darum zu machen, wichtige Beiträge zur Völkerverständigung. So wirkte er 1962 bei der Uraufführung von Benjamin Brittens War Requiem in der wieder aufgebauten Kathedrale von Coventry mit und war 1971 der erste deutsche Künstler, der in Israel auftrat.

Ein erster Höhepunkt in seiner Karriere war seine Darstellung des Wolfram im Tannhäuser 1954 in Bayreuth unter dem Dirigat von Wilhelm Furtwängler. Öffnete ihm das die Türen zu den ganz großen Opernhäusern?

Thomas Erlach: Ja, aber er trat als Opernsänger vorwiegend im deutschsprachigen Raum in Erscheinung, während er international vor allem mit seinen Kunstlied-Interpretationen bekannt wurde. Um Opernrollen bewarb er sich nicht, sie wurden ihm angetragen, und er war durchaus wählerisch, wenn es ihm möglich war. Am liebsten sang er immer nur eine Opernpartie gleichzeitig, um konzentrierter dabei zu sein – etwas, das im normalen deutschen Repertoirebetrieb eigentlich nicht möglich ist.

Er hatte ein paar Idealpartien, nach eigener Aussage waren das: Almaviva (in Mozarts Figaro), Wolfram, Falstaff und Mandryka (in Strauss‘ Arabella). Bestimmte Leid ausdrückende Musik (Schuberts Winterreise, Brahms‘ Vier ernste Gesänge und Opernrollen wie Wozzeck und Lear von Aribert Reimann) konnte er besonders überzeugend verkörpern, sicherlich auch aufgrund eigener Erfahrungen im Krieg und durch den frühen Tod seiner ersten Frau, die bei einer Geburt starb. Einige Wagner-Rollen übernahm er auch gerne, vor allem, wie erwähnt, Wolfram, aber auch Hans Sachs (in den Meistersingern) und Amfortas (im Parsifal), also große Partien, die Reife und Entsagung verkörpern. Nur an Wotan (in Walküre und Siegfried) traute er sich nicht heran, da ihm nach eigener Aussage dafür die „durchschlagende Tiefe“ fehlte.

Sein Opern-Repertoire umfasste über 70 Partien, er sang auch seltener gespielte Werke, z. B. Bizets Perlenfischer, Busonis Faust oder Wolfgang Fortners Bluthochzeit, und setzte sich für Opern des 20. Jahrhunderts ein, auch für zeitgenössische Neukompositionen. Interessant ist auch sein Eintreten für Aufführungen in Originalsprache – damals ein Novum im Opernbetrieb – auch wenn er die Partien phonetisch lernen musste (z. B. sang er Bartóks Blaubart auf Ungarisch). Hingegen war er skeptisch gegenüber einer zu „modernen“ Opernregie, die dem Werk nicht dienen will und häufig auf Unkenntnis der Musik beruht. Er empfand solche Konzepte als ideologisch („Agitpropaganda“), denn in der Oper ist für ihn die Musik vorrangig.

Dietrich Fischer-Dieskau (1985)
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Sein Repertoire umfasste etwa dreitausend Lieder von etwa hundert verschiedenen Komponisten. Das kann man kaum glauben, oder?

Thomas Erlach: Ja, nach eigener Aussage hat er rund 1500 Lieder auswendig gesungen, zusätzlich zu den bereits erwähnten Opernrollen. Seine besondere Zuneigung galt den Klassikern des deutschen Kunstliedes, also Schubert, Schumann, Brahms und Hugo Wolf. Er machte sich aber auch für damals wenig beachtete Liedzyklen stark wie die Lieder eines fahrenden Gesellen von Gustav Mahler, die durch die NS-Zeit aus dem Konzertbetrieb verdrängt waren. Es gelang ihm 1951, den Dirigenten Furtwängler von deren Qualität zu überzeugen und machte sie dadurch dem Publikum erst richtig bekannt. Eine Besonderheit bei Fischer-Dieskau war auch seine damals ungewöhnliche Programmgestaltung. Bei Liederabenden brach er mit dem damals üblichen „Kessel Buntes“ und führte stattdessen durchdachte Zusammenstellungen von Liedern eines einzigen Komponisten, Lieder zu Texten eines einzigen Dichters oder innovative Kombinationen wie Schubert und Anton Webern auf, also ältere und neuere Werke, die sich gegenseitig spiegeln sollten. Das förderte sicherlich das intellektuelle Niveau der Konzerte.

Er gilt als einer der berühmtesten Vertreter des Kunstliedes. Was ist das genau?

Thomas Erlach: Kunstlieder sind Vertonungen lyrischer Gedichte für eine Singstimme und Klavier, vor allem aus der Zeit zwischen 1800 und 1950. Anders als z. B. Volkslieder oder Popsongs sind es stets in Notenschrift verbindlich fixierte Werke, deren fachgerechte Ausführung eine klassisch ausgebildete Stimme und einen entsprechend vorgebildeten Pianisten voraussetzt. Diese Gattung wurde vor allem von deutschsprachigen Komponisten gepflegt, beginnend mit Franz Schubert, endend mit Richard Strauss, seitdem liegt die Produktion eher brach. „Liederabende“, auf denen Kunstlieder aufgeführt werden, sind ein Teil der europäischen bürgerlichen Musikkultur und fanden anfangs im privaten Rahmen als sogenannte „Schubertiaden“, später in Konzertsälen vor größerem (und zahlendem) Publikum statt. Durch den Siegeszug der Tonträger und später des Internets hat die Anzahl solcher Liederabende in Deutschland stark abgenommen. Zu Beginn von Fischer-Dieskaus Karriere fanden aber noch häufiger Liederabende statt, auch in kleineren deutschen Städten.

Das Besondere an seinen Interpretationen war die saubere Diktion. Dazu sagte er selber einmal: „Mir wurde ja übelgenommen, dass man mich verstand, dass der Text deutlich ausgesprochen wurde“. Hat er da im Musikgeschäft ein Tabu gebrochen?

Thomas Erlach: Fischer-Dieskau betrachtete eine gute Textdeklamation als Teil des sängerischen Handwerks. Sprache und Gesang sollen miteinander verschmelzen und eine Einheit bilden. Damit grenzte er sich von einer Gesangstradition ab, die ausschließlich auf einen schönen Stimmklang setzte, aber Textverständlichkeit und sinngemäße Interpretation hintanstellte. „FiDi“ wollte vor allem die bekannten Schubert-Lieder von einer Aufführungstradition befreien, die er als „süßlich und sentimental“ empfand. Die Fachpresse schrieb über seine Interpretation der Schönen Müllerin, sie sei „mehr vom Intellekt als vom Gefühl gezeichnet“, gleichzeitig wurden aber seine Präzision und sein Stimmsitz gelobt. Interessant ist ein Vergleich zwischen Fischer-Dieskau und seinem berühmten „Rivalen“ Hermann Prey, auch einem Bariton, der zudem ein ähnliches Repertoire pflegte. Beide Sänger verstanden sich gut und betrachteten die Konkurrenz als herausfordernd, hatten aber in der Interpretation unterschiedliche Schwerpunkte. Fischer-Dieskau bezeichnete Prey in einem Interview aussagekräftig als „Ohrenschmeichler“. In jedem Fall kann man Fischer-Dieskau als einen sehr selbstkritischen Sänger bezeichnen. Er hörte gerne und oft Schallplatten mit eigenen und fremden Aufnahmen, um seinen Klang und seine Interpretation zu überprüfen und sich künstlerisch weiterzuentwickeln.

Unter seinen internationalen Preisen sind auch sechs Grammys bei insgesamt 25 Nominierungen. Hat Fischer-Dieskau sozusagen das „Kunstlied“ in die Welt getragen?

Thomas Erlach: Das kann man schon sagen. Fischer-Dieskau hat mit etwa 150 Klavierbegleitern zusammen musiziert. 1951 hatte er seine erste Begegnung mit Gerald Moore, den er später als „König der Begleiter“ bezeichnete, mit dem er fast 20 Jahre lang zusammen auftrat und in der Zeit um 1970 sämtliche Schubert-Lieder für Männerstimme auf Schallplatte einspielte, das sind über 500 teilweise sehr selten gespielte Lieder. Diese Aufnahmen zeichnen sich durch rhythmische Prägnanz und optimale Abstimmung aus, sind also mustergültig und präzise ausgearbeitet. Die beiden berühmtesten Schubert-Zyklen Winterreise und Schöne Müllerin hat er sogar mehrmals komplett aufgenommen. Er hat aber niemals einen Exklusivvertrag mit einem Plattenlabel abgeschlossen, weil er als Künstler ein freier Mensch bleiben wollte. Seine Musikpartner berichten, dass er sich auch bei Live-Aufführungen in Tempo und Nuancen genau an die Absprachen bei den Proben hielt, aber dabei niemals pedantisch war. Dem sängerischen Nachwuchs riet er an, mit dem Studium von Kunstliedern zu beginnen und erst später zum Opernstudium überzugehen, da das Opernsingen die Stimme stärker belastet und der Opernbetrieb zudem mit schädlicher Routine verbunden ist. Bezüglich der Zukunft des Kunstlieds als Kompositionsgattung war er allerdings skeptisch. Anders als im Bereich der Oper glaubte er nicht, dass es hier künftig noch wesentliche Neukompositionen geben werde – da könnte er Recht behalten.

Nach seinem Tod überschlägt sich die Presse mit Superlativen. Le Monde in Paris beschreibt seine Gesangskunst z. B. als „an ein Wunder grenzend“. Kolleg*innen loben seine „freundschaftliche“, aber auch „natürliche Autorität“.  Was hatte der Mann, was Anderen fehlt?

Thomas Erlach: Schon rein äußerlich war Fischer-Dieskau eine respektable Erscheinung: Über 190 cm groß, gepflegt und beweglich, ernsthaft, zurückhaltend und ruhig im Ton. Er galt als etwas menschenscheu, mochte keine Publicity, trat nicht gerne im Fernsehen auf und gab wenig aus seinem Privatleben preis – also das Gegenteil eines heutigen Influencers. In Interviews äußerte er sich häufig sehr bescheiden und verbat sich Fragen auf Illustrierten-Niveau. Nach eigener Aussage hatte er kein Sendungsbewusstsein, aber viele Selbstzweifel, wollte nur dem Werk dienen und erlebte keine großen Sinnkrisen. Er pflegte intensive Freundschaften mit ausgewählten Menschen, vorwiegend Künstlern. Seine Lebensweise war sehr diszipliniert: an Konzerttagen sprach und lachte er wenig, um die Stimme zu schonen, er trieb wenig Sport, hütete sich vor Zugluft und Klimaanlagen und mied lange „Nachtsitzungen“ nach Aufführungen mit Rauch und Alkohol. Er war eher ein unpolitischer Mensch, arbeitete an sich und am Kunstwerk, galt mitunter als etwas humorlos und „teutonisch“ ernst, war aber auf der Bühne charismatisch und fesselte die Aufmerksamkeit des Publikums.

Obwohl er bereits 2012 verstarb, ist er bis heute eine Autorität im Klassischen Gesang. Woran merkt man das?

Thomas Erlach: Er ist bis heute präsent in Referenzaufnahmen, die nach wie vor weit verbreitet sind, und in der gesangspädagogischen Praxis. Sicherlich liegt das vor allem an seinem Streben nach Werktreue, seinem Anspruch an eine sinnvolle Zusammenstellung von Konzertprogrammen, an seinem Kampf gegen „Routine“, also Schlendrian im Konzert- und Opernbetrieb, an seiner Forderung, jede neue Einstudierung müsse so engagiert erfolgen wie bei der Erstaufführung. Aber auch an seiner Vielseitigkeit: er malte auch und schrieb zahlreiche Bücher über Musik, beschäftigte sich also mit Kontexten, Hintergründen und Zusammenhängen – ein „wissender Sänger“. Rein organisatorische Aufgaben delegierte er an einen Privatsekretär, was ein Vorbild für alle geistig arbeitenden Menschen sein könnte. Einflussreich ist sicher auch seine musikpädagogische Tätigkeit – er war seit 1983 Professor an der Berliner Musikhochschule und gab zahlreiche Meisterkurse, die zum Teil gefilmt wurden und heute im Internet zu finden sind. Er wünschte für angehende Sänger eine vielseitige Ausbildung mit fundierten musikhistorischen Kenntnissen und trennte im Unterricht nicht zwischen „Gesang“ und „Interpretation“, sondern betrachtete beides als Einheit.

Uwe Blass

Prof. Dr. Thomas Erlach ist seit 2014 Universitätsprofessor für Didaktik der Musik an der Bergischen Universität.